Was soll man mit problematischen Senioren machen
Das Tschechische Fernsehen hat sich das Verdienst erworben, in der freitags ausgestrahlten TV-Nachrichten- und Kommentarsendung „Ereignisse“ ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem offen gelegt zu haben: In den Seniorenheimen sind gegenwärtig rund acht Prozent notorische Querulanten untergebracht. Sie attackieren ihre Mitbewohner und verhalten sich zu den Klienten (?) sowie gegenüber dem Personal gemein. Diejenigen, die sich noch selbständig bewegen können, flüchten ab und zu ins nächstgelegene Wirtshaus, wo sie sich voll laufen lassen. Und die Pflegerinnen bringen se dann mit Hilfe verschiedener technischer Hilfsmittel mühselig zurück ins Heim.
Ich muss einräumen, dass ich für den letztgenannten Verstoß ein gewisses Verständnis habe. Auf ähnliche Art und Weise flüchtet ab und zu irgendein Tier aus dem zoologischen Garten. Es zieht dabei nicht in Erwägung, dass sich der Zoo meistens in Gegenden befindet, deren Klima überhaupt nicht dem entspricht, für welches das Tier geschaffen ist. Dass es höchstwahrscheinlich keine natürliche Nahrungsquelle finden wird, dass es in eine Freiheit flüchtet, mit dem es keine praktischen Erfahrungen hat, und wenn es sie einmal hatte, diese schon längst vergessen hat. Bei der Flucht eines unanpassungsfähigen Seniors (genau wie bei der Flucht des Zöglings eines Tiergartens) verbindet sich der unwiderstehliche Freiheitsdrang mit dem verzweifelten und hoffnungslosen Bemühen, Gevatter Tod zu entgehen. Zumindest scheinbar und wenigstens für einen kurzen Augenblick.
Der unanpassungsfähige Senior stellt freilich für den Pflegedienst und auch für den fürsorglichen Staat ein Problem dar. Sehr schön erläuterte das ein Prager Ratsherr von der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS), dessen Name ich vergessen habe: „Sie denken, dass ihnen nichts passieren kann, aber da irren sie sich gewaltig. Es kann!“ Die Äußerung des Ratsherrn erinnert nicht von ungefähr an eine verhältnismäßig bekannte Passage aus Jaroslav Hašeks Roman „Der brave Soldat Schwejk“. Sie signalisiert, dass eine rasante Lösung im Anzug ist: Nämlich die Schaffung eines für problematische Senioren bestimmten Altersheims mit verschärftem Regime. Auch davon war nämlich im Tschechischen Fernsehen die Rede. Es wird sich – wenn ich es richtig verstehe – um irgendein Mauthausen mit menschlichem Antlitz handeln. Um die Querulanten wird sich dort ausschließlich männliches Personal kümmern – die Sicherstellung der Kader könnte der Abgeordnete der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSČM) und einstige Gefängnisaufseher Josef Vondruška übernehmen, da er in dieser Beziehung über reiche Erfahrungen verfügt.
Es müssen noch zwei Probleme restlos gelöst werden: Erstens, wie soll der problematische Senior bzw. die Problemstufe des Seniors identifiziert werden(denn was werden wir uns erzählen, jeder Senior ist problematisch), der die Internierung in einem Heim mit verschärftem Regime verdient. Wenn die Entscheidung unerschütterlich sein soll, muss sich in ihr die Autorität eines Fachmanns mit der Autorität der Stimme des Volkes vereinen. Die Lösung ist einfach: Damit es allseits demokratisch ist, wird eine Expertenkommission den entsprechenden Vorschlag unterbreiten, der dann bei einem Plebiszit abgesegnet wird. Über das Ausmaß der Volksabstimmung – ob es sich nur um die Belegschaft und selbstverständlich um die Angestellten des entsprechenden Heims handeln wird oder die Gemeinde bzw. die Region entscheiden werden, was die Legitimität der Entscheidung wesentlich erhärten würde – muss noch entschieden werden. Gut geeignet wäre die Verbindung eines Gesetzes über außerordentliche Seniorenheime (ich nehme an, dass das demokratisch wie die Abschiebung der Deutschen gelöst wird, d. h. per Gesetz) mit dem in Vorbereitung befindlich Euthanasie-Gesetz – das Problem ist ähnlich geartet bzw. in seinen Konsequenzen identisch. Im Prinzip hat jeder selbstverständlich das Recht, die Entscheidung über das Ende seines Lebens selbst zu treffen, aber die starke Stimme des Volkes hat vom demokratischen Standpunkt aus zweifelsohne den Vorrang vor der schwachen Stimme einer alleinstehenden Einzelperson.
Und zuletzt das Wichtigste: Was wird mit den unanpassungsfähigen Senioren, die der Internierung in Rentnerheimen bislang arglistig ausgewichen sind? Sollen sie vielleicht vor den Heimzöglingen unrechtmäßige Vorteile genießen? Ich schreibe das, weil mich das Problem auch persönlich betrifft: Ich bin das typische Beispiel eines unanpassungsfähigen Seniors, was u. a. durch eine Reihe von Leserbriefen belegt wird, die ich erhalte. Mehrheitlich beginnen diese mit der Anrede „Sie geifernder Alter“. Meiner Meinung nach sollte sich das Gesetz auch auf diese, d. h. auf uns, beziehen. Eigentlich vor allem auf uns, weil wir - noch nicht unter der Obhut von Fachleuten befindlich – den größten Schaden anrichten.
Damit würden wir einen solchen Grad von Freiheit und Demokratie erreichen, von dem wir unter dem vergangenen Regime nicht einmal geträumt haben.
2. September 2007