Orden für Tote

Für Fest- und insbesondere für Pietätsakte existieren gewisse Grundregeln. Es ist zwar möglich, gegen diese zu verstoßen, aber das ist gewöhnlich zugleich lächerlich, weil dadurch die allgemeine Unkultiviertheit, das schlechte Gewissen oder verschiedene halbtrübe Nebenabsichten der Organisatoren ans Licht kommen.

In zivilisierten Ländern werden beispielsweise niemals Straßen nach lebenden Personen benannt und ihnen keine Denkmäler errichtet. Der Grund ist u. a. ein praktischer: Obwohl es lange Zeit so aussieht, dass alles gut ausgeht, kann das Ende letztlich ein unrühmliches sein. Dann muss die Straße umbenannt werden, was den Herstellern der Straßenschilder, den Kartographen und Briefträgern Schwierigkeiten bereitet. Das Denkmal muss abgerissen werden, was eine kostspielige Angelegenheit ist, obwohl – wie wir Älteren uns erinnern – dies von Späßen begleitet sein kann, die proportional direkt der Größe des abgetragenen Monuments entsprechen. Der richtige Augenblick ist erst dann gekommen, wenn sich das Buch des Lebens schließt und der Betreffende vor dem Letzten Gericht steht. Ich gehöre zu den Optimisten, die glauben, dass sich dessen Verdikt auf diese oder jene Weise auch in der Geschichte widerspiegelt.

Etwas anders sieht das mit den Medaillen aus. Medaillen werden für Verdienste erteilt. Verdienste lassen sich schwerlich absprechen, auch wenn sich der Verdiente später nicht verdienstvoll verhalten sollte. Es passiert auch häufig, dass die kompetente Person (weiter Big Boss) versucht, dem Verdienten die Verdienste abzusprechen, auch wenn diese unbestreitbar sind. Das ist ein guter Grund, um in erster Linie Lebenden Medaillen zu erteilen, und dies möglich schnell, nachdem sie sich verdient gemacht haben. (Bemerkenswert ist dabei, dass zu den Big Bossen, die gern Verdienste absprechen, am häufigsten jene gehören, nach denen noch zu Lebzeiten Straßen benannt werden, die später umbenannt werden müssen, und denen in diesen Zeiten Denkmäler errichtet werden, die später abgerissen werden müssen).

Falls dem Betreffenden die Verdienste früher abgesprochen werden, bevor er dafür eine Medaille bekommen konnte, entsteht ein Problem, weil die Big Bosse, denen bereits zu Lebzeiten Denkmäler errichtet werden, zählebig zu sein pflegen und sehr oft ihre Opfer überleben. Das geschieht besonders häufig in Ländern wie es das unsrige ist, in Ländern, die ständig mit ihrer eigenen Geschichte auf Kriegsfuß stehen und deshalb unaufhörlich etwas nachholen müssen. Von diesem Standpunkt aus ist es verständlich und gerechtfertigt, wenn ab und zu jemand eine Medaille bekommt, der ihre Erteilung nicht mehr erlebt hat.

Es gibt hier allerdings ein Problem: Die Erteilung einer Medaille ist eine Ehrung der Person, die sie erhält. Beispielsweise als symbolische Würdigung von Leid, Unrecht, Schmerz, Angst, die dieser Mensch im Namen von Dingen ertragen hat, deren Nützlichkeit und Noblesse heute nicht einmal die Big Bosse mehr bezweifeln. Die Erteilung einer Medaille ist die Ehrung eines Lebenden, an der auch der Big Boss ein bisschen schmarotzt, der die Medaille erteilt. Damit kann man leider nichts machen.

Dem Toten nützt freilich eine Medaille – wie das Sprichwort sagt – so wenig wie ein Wintermantel. Dafür ist die Medaillenerteilung für den Big Boss von enormem Nutzen, weil ihm der Tote dabei nicht unnötig in die Quere kommt und sich die gesamte Aufmerksamkeit auf ihn konzentriert. Man kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, dass hier der Glaube von Angehörigen primitiver kannibalischer Stämme zum Einsatz kommt, wonach die hervorragenden Eigenschaften des Aufgegessenen wie Tapferkeit und kämpferische Meisterschaft auf den Konsumenten übergehen. Die Angehörigen primitiver Stämme verspeisten allerdings in der Regel Leichen im frischen Zustand. Daraus lässt sich eine Lehre ziehen: Es ist unabdingbar, dass die Verdienstvollen, die angesichts der Veränderlichkeit des politischen Klimas nicht zu Lebzeiten belohnt werden konnten, sofort belohnt werden, wenn die politischen Barrieren fallen. Die unaufhörliche Belohnung von Toten hat einen morbiden, leicht nekrophilen Charakter. Es ist keine Ehrung der Toten, sondern eine Gelegenheit für die Lebenden, um sich mit fremden Federn schmücken zu können.

So werden aus Angsthasen fiktive Teilhaber von Heldentaten, aus Idioten Teilhaber der Entscheidungen Weiser, aus Schreibwütigen Teilhaber der Leistungen genialer Künstler.

Tote sind leider völlig machtlos: Sie können sich nicht wehren, auch wenn sie es möchten. Ich habe dabei das Gefühl, dass sie sich oftmals sehr heftig wehren möchten.