Das traurige Ende des Bären Bruno
Wieder einmal herrschte bei unseren bayerischen Nachbarn Freude! Nach Jahrhunderten kehrte ein richtiger, lebendiger Bär im Lande ein. Er kam freiwillig und allein, nicht etwa mit einem Zirkus oder als Speditionsgut für einen zoologischen Garten. Allerdings zeigte sich sofort, dass die langjährige Abwesenheit von Braunbären und der Mangel an praktischen Erfahrungen mit diesen Tieren bei den zuständigen bayerischen Politikern unangemessene Illusionen geweckt hatten. Vielleicht hatten sie sich vorgestellt, dass Pu der Bär aus der Zeichentrickserie oder ein Zirkusbär eingetroffen ist, der Purzelbäume schlagen und sich im Rhythmus von Chopins „Trauermarsch“ („Marche funèbre“) in den Hüften wiegen konnte. Tatsächlich drang auf das bayerische Hoheitsgebiet ein richtiger und völlig normaler Bär vor, der sich auch wie ein Bär verhielt. Ein Bär ist nämlich ein Raubtier. Die bayerischen Behörden sahen dies nicht als Tatsache an, sondern als überraschende Äußerung von Undank.
Ich kann mir nicht helfen - und es ist von mir wie gewöhnlich unpatriotisch, aber ein bisschen erinnert mich die Geschichte an die Situation, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die ersten Touristen aus dem Osten – aus Tschechien und Polen – in Deutschland und Österreich eintrafen. Nach der ursprünglichen ersten kurzen Freude stellten die Einheimischen fest, dass manche Besucher enorme menschliche Fehler und genauso enorme unlautere Absichten hatten. In den grenznahen österreichischen und deutschen Selbstbedienungen tauchten die berüchtigten Aufschriften „Tschechen, hier nicht stehlen“ mit einem leichten Anhauch von Kollektivschuld auf (bei weitem nicht alle Besucher bedurften dieser prägnanten Aufforderung, und auf die, die sie nötig hatten, machte sie wahrscheinlich keinen großen Eindruck). Unser Mann hat freilich gegenüber einem Bären einen bestimmten Vorteil: Auch wenn er stiehlt, weiß er sehr gut, dass man nicht stehlen soll. Deshalb besteht hier deutliche Hoffnung auf die Möglichkeit der Umerziehung. Einem Bären fehlt leider diese Rückkopplung: Wenn er ein Schaf sieht, nimmt er es nicht als Tier wahr, das genau wie er leben will, aber den Umständen entsprechend als Frühstück, Mittagsmahl oder Abendessen. Meister Petz von der ersten These zu überzeugen, ist noch einen Deut schwerer als einen durchschnittlichen Tschechen zur Einsicht zu bringen, dass man die Sudetendeutschen nicht vertreiben soll.
Es tut mir leid, dass sie den unglücklichen Bären am Ende erschossen haben. Er hat sich allerdings unmoralisch verhalten. Tiere machen das. Ich würde ihm auch ungern im Wald begegnen, da ich den Verdacht hege, dass er mich auf Bärenart und den Umständen entsprechend als Frühstück, Mittagsmahl oder Abendessen ansehen könnte. Vermutlich haben die bayerischen Behörden lediglich den Fehler begangen, dass sie ungebührliche Erwartungen geweckt haben, und dies eher als bei dem Bären selbst bei den Menschen, die ihrem komischen Gebaren assistieren mussten (zu ihrem Pech war das fast ganz Europa). Am Anfang stand demonstrativ der gute Wille. Am Ende die Feststellung, dass ein Bär zum Raubwild gehört. Diese Entdeckung muss in der heutigen Zeit nicht aufgrund von Praxis und Experimenten gemacht werden. Es genügt, das entsprechende Kapitel in Brehms Tierleben zu lesen. Die Handlungsweise der Behörden hat einen leichten Anflug von Hinterhältigkeit: Ein feierliches Begrüßungsspalier, an dessen Ende der Jäger mit der todbringenden Büchse lauert.
Der Mensch muss nicht gerade ein Bär sein, damit ihm das missfällt.
2. Juli 2006