In memoriam Frau A.
Herr Senator Špaček hat ein amtliches Zeugnis, dass er nicht mit der tschechoslowakischen kommunistischen Staatssicherheit StB zusammengearbeitet hat. Jede öffentliche hohe Funktion steht ihm somit offen. Außerdem hatte Herr Špaček in der Vergangenheit außerordentlich enge Kontakte zum damaligen militärischen Abwehrdienst. Selbstverständlich als Opfer. Er musste nämlich dringend zu seinem Vater fahren, der nach (West)-Deutschland emigriert war. Und so blieb Herrn Špaček nichts anderes übrig, als nach jeder Reise den Abwehrleuten eine „Erklärung“ abzuliefern.
Allerdings gab es massenweise Leute, die wie der Herr Senator aus dringenden Gründen zu ihren Angehörigen in den Westen reisen wollten. Im Unterschied zu ihm handelte es sich jedoch mehrheitlich um Pechvögel: Sie gelangten erst in den Westen, als das bolschewistische Regime in seinen Grundfesten zu beben begann. Einige von ihnen sogar erst nach der politischen Wende vom November 1989. Ich verdanke es dem Herrn Senator, dass ich eine sentimentale Erinnerung niederschreiben kann. Einst hatte ich mir vorgenommen, dass ich sie veröffentliche, falls das einmal möglich sein wird. Und siehe da, es ist bereits möglich.
In dem Prager Miethaus, in dem ich einst wohnte, hatten wir eine Nachbarin, Frau A. Dass ich nicht ihren ganzen Namen veröffentliche, ist keine Geheimniskrämerei. Ich habe ihn vergessen. Aber ihre Geschichte keinesfalls.
Frau A. war eine nette, alte, einsame Dame. Ab und zu gab sie unseren Kindern eine Apfelsine oder Schokolade. Mir war das ein bisschen peinlich, weil ich ihre Beweggründe nicht verstand. Dann erfuhr ich, dass ihr Sohn in München lebt. Er war freilich dorthin emigriert, hatte eine Familie gegründet, hatte Kinder. Enkel, die Frau A. niemals gesehen hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal nach München fahren würde, war in dieser Zeit (Mitte der siebziger Jahre) ungefähr so hoch, wie ein Besuch auf dem Mars. Das kommunistische Regime strotzte vor Kraft und auf der Tagesordung stand die Parole: Mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten und niemals anders.
Als ich eines Tages aus der Arbeit nach Hause kehrte, sah ich, dass die Wohnungstür von Frau A. mit Polizeisiegeln verklebt war. Ich freute mich. Also war es ihr doch gelungen, zu ihrem Sohn und den Enkeln auszureisen. Doch ich freute mich zu früh. Die alte Frau war am Vortag auf einer viel befahrenen Prager Straße von einem Auto erfasst worden. Sie war auf der Stelle tot.
Verwandte hatte sie, aber leider in München. Wenn ihr Sohn zum Begräbnis gekommen wäre, wäre er im Prager Stadtteil Ruzyne gelandet (nicht auf dem dortigen internationalen Flughafen, sondern im dortigen Gefängnis). Ich nehme an, dass sie Frau A. wie einen krepierten Hund verscharrt haben.
Frau A. hatte Pech: Ihre Person stand tief unter dem Unterscheidungsvermögen des kommunistischen militärischen Abwehrdienstes. Deshalb konnte sie nicht nach München reisen und nachfolgend darüber eine „Erklärung“ abliefern. Und wenn sie gekonnt hätte, wer weiß, ob sie nicht lieber zu Hause geblieben wäre. Im Unterschied zu Herrn Senator Špaček.
Herr Senator Špaček ist freilich ein Saubermann und kann sämtliche Ämter in Tschechien bekleiden. Doch wenn ich ihm irgendwo begegnen sollte, würde ich mich wieder an Frau A. erinnern. Und würde ihm nicht die Hand reichen.
23. Oktober 2004