Für eine fröhlichere Vergangenheit
Der Schriftsteller Pavel Kohout hat auf irgendeinem europäischen Literaten-Treffen die Historiker aufgefordert, ein „solches Bild der Geschichte zu erstellen, dass keine Beklommenheit hervorruft“.
Die Aufgabe ist demnach gestellt. Bemerkenswert sind an ihr zwei Dinge: Erstens wird ein Historiker als irgendein Mensch angesehen, der den Zuhörern eine Geschichte erzählt, so etwas wie ein Märchen. Wünschen wir uns, dass dieses Märchen möglichst fröhlich wäre.
Und zweitens: Ein Schriftsteller wendet sich an die Historiker wie an eine Berufsinnung und erteilt ihnen eine Aufgabe. In der Vergangenheit war das bei uns die übliche Vorgehensweise. Aufgaben erhielten nicht nur die Historiker, sondern auch die Schriftsteller. Pavel Kohout muss ich das sicherlich nicht erklären. Die Historiker werden als Lackierer angesehen: Ihre Aufgabe besteht darin, die Geschichte rosarot anzustreichen, und unsere Geschichtswissenschaftler werden sich sicher nicht dagegen wehren. Sie sind daran gewöhnt. Schließlich hat sich lediglich geändert, dass sie den Auftrag nicht mehr auf einem Papier mit dem Stempel des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bekommen, sondern ihn in den Verbindungsgängen des Parlaments, auf den Korridoren der Ministerien und in den Kanzleien der Parteisekretariate aus der Luft einfangen müssen.
Dennoch beginnt trotz der wiederholten Lackierarbeiten nach einer gewissen Zeit unter dem rosigen Anstrich erneut das unfreundliche Gesicht der Geschichte durchzuscheinen. Sie ist voller Blut, Unrecht, Gewalt und Verrat. Und sie ruft Beklommenheit hervor – das gehört zu ihrem Wesen.
Überdies nehmen wir die Geschichte – unsere persönliche, private und auch die Geschichte der Gesellschaft, in der wir leben – nicht wie Kinder die Erzählungen der Großmutter wahr: Wir stecken bis über beide Ohren in ihr, haben an ihr unseren Anteil. In der Nacht erwachen wir schweißgebadet und fragen uns: Wie konnten wir das tun, wie konnten wir das zulassen?
Die Geschichte hat selbstverständlich auch ein freundlicheres Gesicht: Eine Kettenreihe von Taten, die uns mit Bewunderung erfüllen und zum Nacheifern auffordern. Die, die sie begangen haben, waren dazu auch aus dem Grund fähig, weil sie von Zeit zu Zeit in der Nacht aus Angst erwachten, was sie Schlechtes getan hatten.
Das ist das Janusgesicht der Historie. Die Geschichte erleben wir, nehmen sie als unsere eigene an, bekennen uns zu ihr im Guten und im Bösen. Wir können das Gute vom Bösen unterscheiden, das Böse bedauern und aus beiden Lehre ziehen. Nur so kann sich im Lauf der Geschichte die Welt zum Besseren wandeln.
Eine als fröhliches Märchen wahrgenommene Geschichte ist das Merkmal des kollektiven Gedächtnisschwundes. Während wir in seliger Verdummung untergehen, rast unsere sich selbst überlassene, reale Geschichte wie ein fahrerloser Wagen dahin - im Eigengefälle vom Schlechten zum noch Schlimmeren.
12. Oktober 2003