Wie ein ideales Märchen aussehen sollte
Der ehemalige Spitzenpolitiker und heutige professionelle Snob Miroslav Macek hat vor kurzem in der Tageszeitung „Lidove noviny“ die tschechischen Volksmärchen einer vernichtenden Kritik unterzogen. Auf der Grundlage der Analyse einiger Beispiele gelangte Macek zu der Schlussfolgerung: „In tschechischen Märchen ist es (bis auf wenige Ausnahmen) unmöglich, auf Superhelden zu stoßen, die durch die intensive Arbeit ihrer Hände oder durch ihren Verstand, ihren Fleiß und ihre Geschäftstüchtigkeit zu Vermögen, Rang und Namen oder zumindest zu einer Braut gekommen sind.“ In „Hänsel und Gretel“ dringen laut Herrn Macek „Unmündige auf ein fremdes Grundstück vor und stehlen dort fremdes Eigentum, ohne dafür bestraft zu werden.“ Auch „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ hielten der Kritik nicht stand. Angeblich wurde dieses Märchen in Estland aus der für Kinder empfohlenen Lektüre ausgereiht (eine Prinzessin dient bei den Knirpsen nur für Logis und Verköstigung, was keine für die Würde eines Menschen zuträgliche Art des Lebensunterhalts ist).
Im gleichen Geist geht es weiter: So bringt ein Rudel wild gewordener Tiere in dem Märchen „Zvířátka a Petrovští“ (das tschechische Gegenstück zu „Die Bremer Stadtmusikanten“) eine Gruppe von Unternehmern um ihr gesamtes Kapital. „Der gestiefelte Kater“ hat wiederum den heimtückischen Mord des Besitzers eines ausgedehnten Erholungsgebiets auf dem Gewissen. Und so weiter und so fort.
Das Problem besteht nur darin, dass wir Tschechen eine Reihe dieser Märchen mit fast ganz Europa teilen. Demnach sieht es so aus, als ob die Verdorbenheit wie ein Krebsgeschwür den alten Kontinent durchwuchert.
Die Kritik der Volksmärchen kann auch entsprechend der ideologischen Orientierung und der Vorlieben des Kritisierenden ausgeweitet werden. Herr Macek äußert sich aus der Position eines Ritters der Marktwirtschaft ohne Attribute. Mich stört als eher konservativ eingestellten Menschen wiederum, dass jeder, der irgendeine gesellschaftliche Autorität darstellt (beispielsweise Seine Hoheit, der Fürst) in den Märchen in der Regel ein Nichtsnutz und Trottel ist. Und als Katzenfreund beleidigt es mich, dass diese Tiere in den Märchen systematischer Schikane und ständigen Demütigungen seitens der Mäuse ausgesetzt sind, die ich verabscheue.
Von dieser Kritik aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Vorstellung, man müsse die Märchen reformieren: Die ungeeigneten sind zu verbieten (wozu angeblich in Estland bereits der erste Schritt getan wurde) und die geeigneten zu ergänzen. Manchmal genügt eine einfache Bearbeitung. So kennen wir beispielsweise alle das Märchen von dem alten Lümmel, der seine Kuh zum Markt bringt und nach einer Reihe verantwortungsloser und unüberlegter Transaktionen seiner greisen Frau nur eine Nadel nach Hause bringt, die er zu guter Letzt – insofern ich mich nicht irre – auch noch verliert.
Um den Anforderungen des Herrn Macek gerecht zu werden, genügt es dabei, alles umzudrehen: Der muntere Greis geht nur mit einer Nadel zum Markt und fährt nach einer Serie wohlüberlegter Geschäfte sowie dank eines hervorragenden Marketings und einer klug konzipierten Werbekampagne letztlich mit einer wunderschönen, wohlgenährten Färse und einer genauso wunderschönen, wohlgenährten 26-jährigen Sekretärin natürlich nicht nach Hause zu seiner alten Frau, sondern auf die Bahamas.
Ich würde mir wiederum Märchen vom Typ „Wie der kluge Fürst den faulen und durchtriebenen Bauernflegel überlistete“ oder vom emsigen Kätzchen wünschen, das innerhalb einer Viertelstunde siebenundzwanzig garstige Mäuse erjagt.
Alle diese Märchen hätten eines gemeinsam: Die Kinder würden sie genauso lieben wie einst angeblich die Märchen des Jára Cimrman, der tschechischen Phantasiegestalt aus der Zeit der k. und k. Monarchie, die landesweit als Verkörperung eines Alleskönners bekannt und berühmt ist. Dass heißt, überhaupt nicht.
Die Vorstellung, dass das Lesen so manchen verdirbt, ist nichts Neues. Sie führt logischerweise dazu, dass man schlechten Lesestoff verbieten soll und den neuen dazu- beziehungsweise den alten umschreiben soll. So wie einst der Professor Moriarty des tschechischen Bolschewismus, der Politiker und Historiker Zdeněk Nejedlý, das Kinderbuch von Jan Karafiát „Broučci“ (Die Käferchen) so modifizierte, dass er den lieben Gott aus ihm eliminierte.
In der Herrn Macek nahestehenden Terminologie nennt man eine derartige Tätigkeit soziales Ingenieurwesen.
20. September 2003