Der grüne Raoul: Eine Unverschämtheit im Quadrat
Am 22. Mai dieses Jahres hat die gesellschaftspolitische tschechische Zeitschrift „Reflex“ die 689. Fortsetzung der Komics-Serie „Der grüne Raoul“ veröffentlicht. Gezeichnet wird diese von Štěpán Mareš, das Szenario schreibt unter dem Zeichen HruTeBa ein Trio von Autoren. Der jetzt veröffentlichte Teil befasst sich auf äußerst originelle Weise mit der Geschichte und Existenz unseres südlichen Nachbarn. Versuchen wir zunächst, zu rekapitulieren, worum es eigentlich geht:
Der erste Österreicher entstand beim Beischlaf eines Bayern (feststellbar ist eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, der dazu kam wie Pilatus ins Credo) mit einem tschechischen Dienstmädchen. Während des Zweiten Weltkrieges waren die Österreicher eifrigere Nazis als die Deutschen, nach dem Krieg gaben sie sich als deren erstes Opfer aus. Beredtes Zeugnis über ihre Natur legen die Fälle Kampusch und Fritzl ab. Das ist das wahre Gesicht dieser „Bannerträger der europäischen Kultur“.
Die Initiative der Autoren ist wirklich originell. Lassen wir jetzt einmal beiseite, dass sie auf dem Prinzip der Kollektivschuld aufgebaut ist und konzentrieren wir uns auf ihre politischen Folgen.
Sachlich gesehen ist das Verhältnis zu unseren südlichen Nachbarn unter allen unseren Nachbarschaftsbeziehungen bei weitem das schlechteste. Das ist nicht nur und ausschließlich unsere Schuld. Es ist begreiflich und berechtigt, dass die Österreicher eine ehrliche Äußerung des Bedauerns über die als Beneš-Dekrete bekannten tschechoslowakischen Nachkriegsverordnungen - mittels derer Deutsche und Ungarn enteignet und ihrer Bürgerrechte beraubt wurden - und die Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen hören möchten.
Auf gewisse Art begreiflich (obwohl meiner Ansicht nach nicht völlig berechtigt) ist die Frustration der Österreicher bezüglich der Atomkraft: In der Zeit der problematischen Sicherstellung der „Neutralität“ Österreichs legte insbesondere die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) als treuester Vasall des russischen kommunistischen Imperiums Wert darauf, mit tückischer Hartnäckigkeit mit nur wenig Vertrauen erweckender Technologie ausgestattete Kernkraftwerke fast auf der österreichischen Grenze zu bauen. Und letztlich unbegreiflich und unberechtigt ist meiner Meinung nach der Widerstand der heutigen politischen Repräsentation Österreichs gegen die Errichtung eines amerikanischen Radarstützpunktes, weil sie damit die grundlegenden Sicherheitsinteressen der Tschechischen Republik gefährdet.
Das alles führe ich nur zur Bestandsaufnahme der Situation an, in die die Autoren mit ihrer Serie wie die Elefanten in den Porzellanladen einbrachen. Die Situation ist ausgesprochen schlecht, und es ist ausgesprochen verantwortungslos, sie mittels plumper Witze noch zu verschlechtern.
Insbesondere in Ländern, in denen manche christlichen Grundsätze mehr geehrt werden als in Tschechien, würde offensichtlich die Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu´, das füg´ auch keinem anderen zu“ in Erwägung gezogen. Stellen wir uns vor, jemand würde in Österreich eine scherzhafte Serie veröffentlichen, wonach die Tschechen einst so entstanden seien, dass im Land sesshaft gewordene Markomannen aus Mangel an anderer Unterhaltung mit örtlichen Wildziegen Unzucht trieben.
Es ist auch sehr naiv, Konsequenzen aus dem Fall Fritzl gerade in einer Zeit zu ziehen, in der sich die tschechische Justiz intensiv mit einer Bande skrupelloser Hexen befasst, die offenbar zwei wehrlose Kinder folterte, um sie für günstig zu Geld machbare Gelüste von Pädophilen gefügig zu machen. Und vor allem: Das Problem besteht nicht darin, dass sich die österreichische Haltung zum deutschen Nationalsozialismus diametral von der tschechischen Haltung zum deutschen Nationalsozialismus unterscheiden würde, sondern darin, dass die österreichische Haltung zum deutschen Nationalsozialismus wie ein Ei dem anderen der tschechischen Haltung zum russischen Bolschewismus ähnelt und sich die österreichische Haltung zum russischen Bolschewismus diametral von der tschechischen Haltung zum russischen Bolschewismus unterscheidet.
Die tschechischen Politiker haben die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs nicht allzu mannhaft dazu genutzt, ihre deutschen Mitbürger zu bestehlen und aus dem Land zu vertreiben. Damit haben sie ihre unsterbliche Seele dem russischen Teufel verschrieben, ohne dessen Unterstützung etwas Derartiges nicht hätte durchgeführt werden können. Während die Kommunisten in der Tschechoslowakei bei den Wahlen im Jahr 1946 38 Prozent der Stimmen erhielten, waren es in Österreich ein Jahr zuvor trotz allen Drängens nur 5,5 Prozent der Stimmen.
So wie im Jahr 1938 viele Österreicher (bei weitem nicht alle) ihrer historischen Frustration freien Lauf ließen und Hitler unterstützten, so machte in den Jahren 1945-1948 ein Großteil der Tschechen einer ähnlichen historischen Frustration Luft und lieferte sich dem russischen Giganten aus. In beiden Fällen war das Ergebnis eine Katastrophe, mit deren Nachwirkungen die Tschechen heute zumindest die gleichen Probleme wie ihre österreichischen Nachbarn haben. Sie geben sich als unschuldiges Opfer Stalins aus, obwohl sie ihm einst arglos und aus eigennützigen Gründen selbst in den Hintern gekrochen waren.
Mitteleuropa ist ein von Minderwertigkeitskomplexen und nationalistischen Manien geschütteltes, instabiles Territorium. Deshalb ist es seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Fokus begehrlicher und starker Mächte. Sinn der praktischen Politik soll es sein, diese Manien und Minderwertigkeitskomplexe zu rationalisieren und ihnen die destruktive Stärke zu entziehen.
Der Weg, den Aktivitäten wie die der Autoren des „grünen Raoul“ einschlagen, führt genau zum Gegenteil. Und jeder Tscheche, der aus diesem oder jenem Grund Lust hat, vor den Österreichern die Muskeln spielen zu lassen, sollte tief in seinem Gedächtnis suchen und sich an die Worte erinnern: „Wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!“ (Matthäus 7, 3-5)
liberale Tageszeitung „Lidove noviny“, 25. 6. 2008
Übersetzung Sylvia Janovská