Von den unschuldigen Zivilisten
Die tschechische Gesellschaft - genauer gesagt, ihre intellektuelle Vorhut, die mittels der Medien die Gesinnung der Bürger formt - hält mit Europa Schritt und bemüht sich um einen gerechten Ausgleich zwischen der westlichen Welt und den islamischen Terroristen. Dank dessen sieht beispielsweise das öffentlich-rechtliche Tschechische Fernsehen, zumindest seiner Auslandsberichterstattung nach zu urteilen, wie die Prager Zweigstelle von Al-Dschasira aus. Das Bemühen um eine gerechte Einstellung zeigt sich ganz spontan auch in Kleinigkeiten. Zum Beispiel in den medialen Ausdrucksmitteln. Wir erfahren beispielsweise, dass auch „unschuldige Zivilisten“ zu Opfern von Attentaten werden. Die Wortverbindung „unschuldige Zivilisten“ ist faszinierend und verdient eine gewisse Analyse: Sie ähnelt Aschenputtels Haselnuss, denn sie enthält eine ganze Weltanschauung.
Die europäische Gesellschaft unterteilt sich demnach in mehrere Gruppen, die sich durch das Ausmaß ihrer Schuld voneinander unterscheiden.
Vor allem sind hier die uniformierten Einheiten zu nennen. An ihrer substanziellen Schuld besteht kein Zweifel. Sie geraten mit den muslimischen „Kämpfern“ (oder „Radikalen“, wie man anderswo sagt) unter dem lächerlichen Vorwand ins Gemenge, dass sie die Leben der Zivilisten schützen wollen. Kein Wunder, wenn sie dabei um Kopf und Kragen kommen. Das ist ihr Problem. Denn, sagen Sie nur: Können Sie sich die Wortverbindung „unschuldiger Polizist“ oder „unschuldiger Soldat“ vorstellen? Die zieht dem Menschen doch die Ohren lang.
Dann gibt es hier die Zivilisten, und mit diesen ist es komplizierter. Sie teilen sich augenscheinlich in zwei Gruppen. Vor allem sind hier die schuldigen Zivilisten, die es verdienen, in Stücke gerissen zu werden. Dass heißt, wenn sie unter der Erde oder auf der Erde sind, können sie in die Luft gesprengt werden, und wenn sie schon zufälligerweise in der Luft sind, dagegen auf die Erde herabgeschossen werden. Ab und zu gerät in einen derartigen Vorfall freilich irgendein Dummkopf, der für nichts kann. Seine Zerreißung hinterlässt auf dem Eifer der Kämpfer bzw. Radikalen so etwas wie einen Makel. Es geht also darum, wie ihnen geholfen werden kann.
Vor der tschechischen intellektuellen Vorhut stehen - wie es scheint - zwei Aufgaben: Erstens, wie man es einrichten könnte, damit bei der Durchführung von Massenanschlägen, wie es die in New York oder in Madrid waren, nur (außer den Uniformierten, die es vollauf verdient haben) wirklich schuldige Zivilisten dabei sind. Das wird offensichtlich nicht nur eine Angelegenheit der Technik sein, sondern auch der Kriterien. Und zweitens: Wie soll man von diesen Kriterien auch die „Kämpfer“ überzeugen, und zwar jeden einzelnen für sich, weil sie sich weder durch Organisiertheit noch Einträchtigkeit auszeichnen (sie benötigen sie nämlich zu nichts).
Wir Tschechen haben zwar in diesem Sinn so etwas wie eine historische Erfahrung. Im Jahre 1945 haben wir das mit der Schuld oder Unschuld unserer deutschen Mitbürger einfach gelöst: Zuerst haben wir sie alle für schuldig erklärt, und dann haben wir denjenigen, die sich unschuldig fühlten, Gelegenheit gegeben, sich um die Anerkennung ihrer Unschuld bei den zuständigen Behörden zu bewerben. Diese Erfahrung ist leider in der neuen Situation schwer anwendbar: Es hätte nicht viel Sinn, zuerst jemanden in die Luft zu jagen, und dann – wenn er schon in der Luft ist – von ihm zu verlangen, nachzuweisen, dass er unschuldig ist.
Ich würde aber sagen, dass die, die sich den merkwürdigen Begriff „unschuldiger Zivilist“ ausgedacht haben, unsere Hilfe nicht benötigen: Es ging ihnen nicht um irgendeine Sortierung der europäischen Population. Sie schwenken einfach vor den „Kämpfern“ die weiße Fahne und rufen: Mich lasst um Gotteswillen aus. Ich bin – im Unterschied zu den anderen – völlig unschuldig.
Übrig bleibt die Frage, wie eigentlich ein solcher „schuldiger Zivilist“ aussieht. Ein Beispiel erlaubt sich der Autor dieser Zeilen anzuführen: Er ist es nämlich selbst. Einfach aus dem Grund, weil er sich nicht zur Einreihung in die Gruppe der unschuldigen Zivilisten bekennt. Es würde ihm in der jetzigen Situation ekelhaft vorkommen.
15. August 2006