Die Verwandlung
Wundersame Verwandlungen kennen wir vor allem aus Märchen. Wenn sich etwas Ähnliches in unserem grauen Alltagsleben ereignet, ist das eine Überraschung und zumindest einer Erwähnung wert. Beispielsweise die ungewöhnliche Geschichte, die sich in Nový Jíčín abgespielt hat.
Irgendwann Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde in der Stadt ein Siegesstandbild aufgestellt. Der Sieg konnte damals zweierlei durch und durch positive Geschehnisse bedeuten: Den Sieg des werktätigen Volkes über die Reaktion und den Sieg der Roten Armee über die nazistischen Okkupanten. Um welchen dieser beiden Fälle es ging, ist schwer zu bestimmen. Der Fotografie nach zu urteilen handelte es sich um eine Gestalt männlichen Geschlechts mit erhobenen Armen, die entfernt an die Statur des Prädators aus dem bekannten amerikanischen Film erinnerte. Die kommunistischen Ratsherren entschieden, dass das Werk recht hässlich sei und ordneten seine Verschönerung an. Und zwar, indem der Skulptur das etwas überdimensionierte Geschlechtsteil abgefeilt wurde. Weil auch diese Bearbeitung nicht zum gewünschten Ergebnis führte, ließen sie letztlich das Standbild entfernen und einlagern.
Nach der politischen Wende verriet der Autor der Skulptur, worum es wirklich geht: Die Statue symbolisiert die Befreiung eines politischen Häftlings! Der kommunistischen Honoration hatte das der Bildhauer offensichtlich nicht verraten, wahrscheinlich befürchtete er, dass er - statt ein Honorar zu erhalten - einer ähnlichen Bearbeitung wie sein Werk unterzogen wird. Noch wahrscheinlicher ist aber, das es zur Verwandlung vom Sieg (des werktätigen Volkes, der Roten Armee) in die Befreiung (eines politischen Häftlings) erst in einem angespannten historischen Augenblick kam, höchstwahrscheinlich in der Nacht vom 17. zum 18. November 1989, dem Zeitpunkt der sanften Revolution. Weil sich die Metamorphose im Depositorium und ohne Zeugen abspielte, ist es durchaus verständlich, dass der Bildhauer nun gern die breite Öffentlichkeit mit ihr bekannt machen möchte. Deshalb fordert er die Wiederaufstellung des Monuments oder seine Rückgabe zwecks erneuter Installation in einer anderen, dankbareren Stadt. Der Stadtrat von Nový Jíčín wehrt sich matt, die Statue sei sein Eigentum, weil die Stadt ordnungsgemäß dafür bezahlt habe und es schwierig sei, einen geeigneten Aufstellungsort für sie zu finden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Ratsleute den Ort, an dem sich die Skulptur jetzt befindet, für den geeignetsten halten. Ich würde mich kaum über sie wundern.
Allerdings wäre es schade, der Öffentlichkeit die Metamorphose vorzuenthalten. Insbesondere, wenn wir in Erwägung ziehen, dass es bei weitem nicht die letzte sein muss. Wenn sich das Regime wieder ändern würde, ist nämlich nicht auszuschließen, dass sich der wundersame Prozess in umgekehrter Reihenfolge wiederholen und aus der Befreiung wieder ein Sieg wird. Es ist nur die Frage, wessen Sieg.
14. März 2004