Das vierte Flugzeug
In den letzten Tagen habe ich wohl oder übel mehrmals versucht, mir das Unvorstellbare vorzustellen, das, was ich am liebsten in den tiefsten Winkel des Unterbewusstseins zurückdrängen möchte. Terroristen haben sich eines Flugzeugs bemächtigt. Die Passagiere an Bord haben sie nach hinten gejagt, damit sie nicht im Weg sind. Jemand wurde zur Warnung bereits getötet, andere sind verletzt. Die Menschen weinen, bitten, beten. Sie erhalten die stereotype Antwort: Seid ruhig und es passiert euch nichts. Unterdessen rast das Flugzeug in Höchstgeschwindigkeit in die Stahlkonstruktion eines Handelszentrums.
Die Terroristen haben in diesem Augenblick die Übermacht. Was sie ins Spiel eingebracht haben, sind Messer und ihr eigenes Leben. Bei aller Bestialität, diese Einlage hat großes Gewicht: und kann in der Kombination mit Verschlagenheit den modernsten Waffen konkurrieren. Den Terroristen stehen überfallene, wehrlose Menschen gegenüber, zitternd in der leeren Hoffnung, dass es ihnen vielleicht zu entkommen gelingt. Dabei ergeht es ihnen wie den Lämmern, die zur Schlachtbank geführt werden.
Unser Handicap besteht darin, das wir eine andere Vorstellung vom Wert des Lebens haben. Vom eigenen – was uns daran hindert, uns kopflos in von vornherein verlorene Schlachten zu stürzen. Und auch vom fremden Leben: Es ist für uns nicht nur trockenes Holz, mit dem wir das Feuer unserer heiligen Sache unterhalten.
Diese Beschreibung der Tragödie eignet sich vielleicht für die Flugzeuge, die ins World Trade Center prallten, und auch für das Flugzeug, das auf den Pentagon stürzte. Doch es bleibt noch das vierte, das Flugzeug, das nicht am Ziel ankam. Der Beginn seiner Geschichte ist der gleiche. Terroristen bemächtigten sich der Maschine, die Passagiere wurden in eine Ecke gedrängt, die gleichen verlogenen Trostreden erklangen. Aber jemand hatte – wahrscheinlich aus dem Radio – erfahren, was in New York und in Washington geschehen war. Der Untergang ist unausweichlich. Und in diesem Moment stellen ein paar Menschen den Messern und den Leben der Terroristen ihr Leben entgegen. Dabei zeigt sich, dass der Stellenwert der Messer minimal ist. Alle kommen um, aber ihr Opfer war nicht umsonst. Das perverse Ziel wurde nicht erreicht.
Welche Lehre ergibt sich daraus? Verschiedene Schulmeister und Yogis fremder Buße rufen Amerika zur Selbstprüfung und zur Reue auf. Selbstverständlich sind Selbstprüfung und Reue immer angebracht. Aber derartige Reden über dem verbrannten Körper einer mit Stacheldraht gefesselten Stewardess zu halten, kommt mir nicht nur billig, sondern abscheulich vor. In diesem Moment würde ich mir eher wünschen, dass in dem Maß, in dem das in unserer unvollkommenen Welt möglich ist, der Gerechtigkeit Genüge widerfährt, und wir die Wiederholung oder Eskalation ähnlicher Gewalttaten verhindern können.
Die wirkliche Lehre ist eine andere. Heute schreibt man, dass sich die Welt nach den Terroranschlägen in den USA grundsätzlich verändert hat. Meiner Meinung nach ist das nicht der Fall. Wir haben nur in den letzten Jahrzehnten der Ruhe und Behaglichkeit vergessen, was die Welt für Eigenschaften hat. Wir sitzen im vierten Flugzeug. Bislang ist der Innenraum geschmackvoll erleuchtet und die Stewardessen bieten mit einem netten Lächeln Erfrischungen an. Doch der Feind ist schon da: Er war immer hier und einmal schlägt er zu. Wir kennen weder Tag noch Stunde. Machen wir uns keine Illusionen, einmal sterben wir ja doch alle. Das können wir nicht verhindern. Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Aber bevor dies eintritt, haben wir die Hoffnung, dass abzuwenden, was sonst unabwendbar sein wird. Beten wir, dass uns das gelingt.
15. September 2001
Geschrieben für die tschechische Sendung von BBC