Von Entschuldigungen und Kannibalen

In der guten Gesellschaft ist es Sitte geworden, sich bei Menschenfressern zu entschuldigen. Für das Christentum. Für die Kreuzzüge. Für die kolonialen Eroberungen. Für die Kolonalisierung Nordamerikas usw. Auf die Kannibalen macht das bislang keinen großen Eindruck. Fröhlich sprengen sie Häuser, Tanzsäle, Restaurants und Kindergärten in die Luft. Sie bringen Wolkenkratzer mit Hilfe von Flugzeugen, die sie samt Passagieren entführt haben, zum Einsturz. Ab und zu, wenn sie sich ausgetobt haben und müde sind, setzen sich die Kannibalen mit pieksauberen Gentlemans an den Verhandlungstisch. Dann werden sie mit Nobelpreisen belohnt. Im Blitzlichtgewitter der Fotoreporter, auf den Festempfängen, wo Menschenfleisch vorerst nicht gereicht wird, sind sie schwer von den Gentlemans zu unterscheiden. Ähnlich wie die Ferkel von den Farmern in Orwells „Farm der Tiere“.

Nunmehr sieht es so aus, als ob wir endlich ein Signal von der anderen Seite der Barrikade empfangen hätten. Der erste Lichtblick!

Die Einwohner einer Siedlung auf den Fidschi-Inseln entschlossen sich, sich bei den Hinterbliebenen eines Missionärs zu entschuldigen, der von ihren Vorfahren irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgefressen worden war. Der Betroffene hatte sich eine außerordentlich abscheuliche Tat zuschulde kommen lassen: Er berührte nämlich aus Versehen das Haupt des Häuptlings. Eine derartige Untat wurde auf den Inseln mit der sofortigen Konsumation des Delinquenten bestraft. „Wir haben alles außer seinen Schuhen gegessen“, bezeugte einer der Teilnehmer des Festschmauses. Einer dieser Schuhe ist angeblich bis heute im örtlichen Musuem ausgestellt. Gewicht verleiht dem Festakt der Entschuldigung die Anwesenheit des Ministerpräsidenten der Fidschi-Inseln.

Aber freuen wir uns nicht zu früh: Die Bewohner der Fidschi-Inseln fielen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Globalisierung zum Opfer. Sie nahmen das Christentum an und hörten infolge dessen auf, Missionäre und auch sich untereinander zu verspeisen. Die, die sich heute entschuldigen, haben mit den einstigen Menschenfressern nichts mehr gemein. Die Entschuldigung wird ihnen leichtfallen. Der Kannibalismus schaffte es, inzwischen in anderen Gebieten Einzug zu halten.

Ich kann mir vorstellen, wie sich im Jahre 2130 die Tschechen – falls sie noch existieren werden – bei den Sudetendeutschen entschuldigen, die sicher nicht mehr existieren werden. Der tschechische Ministerpräsident wird dabei sein und Ströme von Krokodilstränen werden fließen. Es wird eine Kundgebung des guten Willens sein, noch dazu eine völlig kostenlose. Der Kannibalismus wird zweifelsohne unterdessen neue Formen annehmen. Er ist veränderlich wie das Leben selbst.

23. Oktober 2003