Über den Hass
Dem tschechischen Volk droht abermals tödliche Gefahr: Es scheint, dass die Reiterstatue des ersten österreichischen Kaisers Franz I. zu dem neugotischen Turm am Smetana-Kai in Prag zurückkehren wird. Beseitigt worden war die Skulptur im Jahr 1918 als unerwünschtes Symbol der Habsburger Monarchie.
Gegen die Wiederaufstellungspläne protestieren entrüstet: der Verein des heimischen Widerstandskampfes und der Partisanen der Tschechischen Republik, der Verband der Freiheitskämpfer, die Dr. Edvard Beneš-Gesellschaft und die Masaryk-Gesellschaft.
Es ist paradox: Was hat der vor 168 Jahren verstorbene Kaiser und sein 15 Jahre später aufgestelltes Standbild mit den Verehrern der zwei bis drei Generationen von ihm entfernten Politiker Masaryk und Beneš sowie dem Widerstandskampf während des Zweiten Weltkriegs zu tun?
Der Kaiser selbst war kein Genius. In Schrecken versetzt durch die Französische Revolution führte er im Land eine auf polizeilicher Unterdrückung basierende, starre politische Stabilität ein. Diese Linie behielt er bis zu seinem Tod bei. Folge war der Ausbruch der Revolution im Jahr 1848. Wenn heute jemand mit dem Einfall käme, Franz dem I. ein Denkmal zu errichten, wäre er Adept für die Einweisung ins Irrenhaus. In diesem Fall geht es freilich nicht um die Errichtung eines Denkmals, sondern um die Erneuerung einer historischen Sehenswürdigkeit. Und es geht noch um ein bisschen mehr.
Franz I. war Monarch des Reiches, zu dem wir einst gehörten. Können wir ihn genau wie das Münchner Abkommen für nichtexistent von Anfang an erklären? Wollen wir das tun, was unseren Volkstümlern zufolge (allerdings nur dann, wenn über die Sudetendeutschen gesprochen wird) die schlimmste aller Sünden ist, nämlich die Geschichte umschreiben? Wie ist es möglich, dass eine relativ bedeutungslose Person wie Franz I. so viele Jahre nach ihrem Tod derartige Emotionen auf sich zieht? Halten wir den Kaiser noch immer für eine Gefahr und Bedrohung unserer nationalen Existenz, so dass auch die Wiedererrichtung seines Denkmals gefährlich für uns ist? Die Ungarn, die zu Franz I. kein besonders harmonisches Verhältnis hatten, benannten nach ihm eine der Hauptstraßen Budapests und einen Stadtteil (Ferencváros, Fußballfans kennen den Namen).
Die Haltung der tschechischen Volkstümler zur Wiedererrichtung des Denkmals verrät etwas über das tschechische Verhältnis zur eigenen Geschichte. Wir betten in dieses eine bemerkenswerte Ladung Hass ein. Keinem wird etwas vergeben. Unsere Geschichte ist für uns ein permanenter Grund zu Wut und Hysterie. Schließlich hatten wir etwas weitaus Besseres verdient!
Wut ist der Feind von Gerechtigkeit. Die Gesellschaft erschüttert unversöhnlicher Hass, und wenn es den verantwortungsbewussten Leuten nicht gelingt, seinen Pegel zu senken, wird bei uns höchstwahrscheinlich wieder einmal das Morden beginnen. Das Standbild des Kaisers funktioniert in diesem Moment wie das als Wasserstandsmelder der Moldau dienende Bradac-Relief an der nahe gelegenen Karlsbrücke: Es misst den Pegel des Hasses in der Gesellschaft. Seine Wiedererrichtung würde uns melden, dass Wut und Hass abgeflaut sind.
Stalin hat die These von der Verschärfung des Kampfes (zuerst des nationalen, danach des Klassenkampfes) überhaupt nicht bei uns einführen müssen. Unsere Vorfahren haben sie sich bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu eigen gemacht. Gerechtigkeitshalber muss hinzugefügt werden, dass sie auf diesem Gebiet nicht allein waren. Wir sollten versuchen, diesen unseligen Trend umzukehren und uns unter anderem auch mit unserer Geschichte auszusöhnen.
Falls dazu heute der verstorbene Monarch dienen würde, wäre es wahrscheinlich das erste Mal, dass Franz I. lange nach seinem Tod wirklich zu etwas gut wäre.
26. Juli 2003