Sind wir stolz genug?
Spieglein, Spieglein an der Wand, sag mir, wer ist der Stolzeste auf dieser Welt... Diejenigen, die eine ähnliche Frage stellen, deuten zugleich beredt an, welche Antwort sie gern hören möchten. In der letzten Zeit ist diese Frage auch bei uns verhältnismäßig oft zu hören.
Mit dem Zustand unseres Stolzes befasst sich u. a. auch der tschechische Botschafter bei der EU (und einstige stellvertretende Außenminister) Pavel Telička. Seiner Ansicht nach kann es auf den ersten Blick so aussehen, als ob wir Tschechen nicht stolz genug wären: Wir sind so selbstkritisch, bis wir uns selbst nicht mehr glauben. Dieses vermeintliche Handicap verwandelt sich jedoch umgehend in einen Vorteil: Wir haben dank dessen eine bessere Selbstreflexion als andere mitteleuropäische Völker. Und alles mündet in der optimistischen Schlussfolgerung, dass wir eigentlich gar nicht zu wenig stolz sind, sondern unseren Stolz nur weniger zu erkennen geben. Soweit das mit dem Behördenstempel des Außenministeriums versehene Zeugnis über den tschechischen Nationalstolz.
Hier muss mit unserem neuen Herrn Präsidenten Klaus gesagt werden: Das ist eine typisch schlecht gestellte Frage. Ein wirklich stolzer Mensch beschäftigt sich nicht mit seinem Stolz und dessen Ausmaß, weil ihm gerade das sein Stolz nicht erlaubt. Die Erforschung des eigenen Stolzes ist etwas Ähnliches, als wenn sich jemand mit der Frage befassen würde, ob er sympathisch genug ist, und mit welchen Mitteln und Methoden er seinen Sympathiebonus erhöhen könnte. In Wirklichkeit ist Sympathie nur ein Zusammenspiel zahlreicher weiterer Eigenschaften, von denen man einige beeinflussen kann, andere aber nicht. Nur ein eitler Dummkopf kann Sympathie thematisieren und an ihr arbeiten.
Mit der Frage unseres Stoles befassen sich bei uns nicht nur Ministerien, sondern auch wissenschaftliche Institutionen, nämlich die Meinungsforschungsinstitute. Das klingt hoffnungsvoll: Man kann voraussetzen, dass es entsprechend exakter Parameter in Zukunft möglich sein wird, irgendein Barometer des Nationalstolzes zu konstruieren und dessen Stand dann täglich im Radio ähnlich wie den Wasserpegel in den tschechischen Flüssen zu melden. An der Erhebung des staatlichen tschechischen Meinungsforschungsinstituts CVVM, an der ich mich gerade stoße, ist allerdings interessant, dass sie sich nicht nur damit befasst, wie stolz wir sind, sondern auch, auf was. Und hier stellen wir fest, dass unser Bürger am meisten auf unsere Nationalgeschichte stolz ist, vor allem auf die Zeit des römischen Kaisers und böhmischen Königs Karl IV. Also auf etwas, woran er keinen Anteil hatte, was er weder im guten noch im bösen Sinne beeinflussen konnte, und wovon er in der Regel nur das weiß, was er unter den Kommunisten im Geschichtsunterricht gelernt hat. Das bedeutet soviel, wie nichts. Dagegen schämt er sich über die Maßen dafür, was bei uns nach der politischen Wende von 1989 geschah, also dafür, woran er sich auf diese oder jene Weise aktiv beteiligt hat. Hier ist es allerdings notwendig, für unseren Mann einzutreten. Er ist Opfer einer durch verschiedene Inkarnationen von Václav Havels Slogan „Wahrheit und Liebe“ ausgelösten Massenpsychose geworden. Dass einzige, worin sich dessen Herolde mit der kommunistischen Propaganda nach der politischen Wende einig waren und sind, war und ist die prinzipielle Verurteilung dessen, was bei uns vor allem nach dem Jahr 1992 geschah. D. h. seit dem Zeitpunkt, an dem sie fünftes Rad am Wagen wurden. Der sachliche Blick würde zeigen, dass sich in Tschechien Sachen abgespielt haben, für die man sich schämen muss, aber auch Sachen, für die man sich nicht schämen muss, und dass es wichtig ist, zwischen beiden einen kritischen Unterschied machen zu können.
Dagegen schämt sich unser Bürger erstaunlicherweise nicht für die Art und Weise, wie wir (feierlich und mit wehendem Banner) in das bolschewistische Paradies einmarschiert sind, und wie wir uns in diesem verhalten haben. Wahr ist, dass die Einmarschierung unsere Großväter oder höchstens Väter betrifft. Aber viele von uns schafften es noch, Hand ans Werk zu legen. Selbstverständlich kommt es darauf an, auf welche Weise jemand Hand ans Werk gelegt hat. Aber auch darauf, wie er die Dinge, an denen er sich aktiv beteiligt hat oder auch die, für die er nur mittelbar als winziger Teil der tschechischen nationalen Gesellschaft verantwortlich ist, aus der Distanz betrachten kann.
Den eigenartigen Selbstbetrachtungsreflexionen über unseren Nationalstolz nach zu urteilen, ist das bislang nicht gerade erhebend. Ein Trost kann uns sein, dass wir uns darin kaum von unseren postkommunistischen Nachbarn unterscheiden. Die Schamlosigkeit blüht in unserer Region wie die Gänseblümchen auf der Wiese. Das Heilmittel für sie ist Sachlichkeit (einst sagte man Realismus) und die Fähigkeit zur Kritik. Während die Grübelei, ob wir stolz genug sind, genau das Gegenteil von dem ist, was gemacht werden sollte. Überlassen wir sie größeren Köpfen und befassen wir uns lieber mit wichtigeren Dingen.
23. März 2003