Fürchten wir uns nicht vor einer Revision

Wenn von irgendwoher aus der Nachbarschaft (in der Regel aus Deutschland, Österreich oder Ungarn) ein bisschen Kritik bezüglich dessen erklingt, wie die tschechische Politik mit den Schattenseiten unserer jüngsten Vergangenheit umgeht, ertönen in der Regel entrüstete und gekränkte Proteste:: Ihr stellt schließlich die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs in Frage, im schlimmeren Fall sogar beider Weltkriege!

Wie zu sehen ist, messen die tschechischen Politiker Kriegen und ihren Ergebnissen außerordentliche Bedeutung bei. Sie glauben, dass das, was sich aus einem Krieg ergeben hat, absolut stabil und verlässlich ist, unvergleichlich mehr als das Ergebnis eines Friedensvertrags gleichberechtigter Partner. Daraus ergibt sich allerdings Folgendes: Falls sich jemand richtig absichern will, tut er am besten, wenn er deswegen einen Krieg führt. Und wenn jemand eine Änderung dessen durchsetzen will, was durch einen Krieg erhärtet wurde, bleibt ihm nichts anderes übrig, als einen neuen Krieg zu entfesseln. Die Anhänger der Unveränderlichkeit von Kriegsergebnissen gehen somit unbewusst auf den Grundsatz ein, dass das Faustrecht das zuverlässigste Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen ist. Die Geschichte verwandelt sich in dieser Auffassung in einen Teufelskreis nie endender Gewalt.

Es ist offensichtlich kein Zufall, dass die überwiegende Mehrheit der tschechischen Bürger keine unmittelbaren Kriegserlebnisse mehr hat. Der letzte Krieg endete vor mehr als einem halben Jahrhundert und beide großen Kriege des letzten Jahrhunderts suchten das heutige tschechische Staatsgebiet nicht mit voller Wucht heim. Vielleicht rührt daher die Vorliebe für die Nachstellung berühmter Schlachten der Vergangenheit, angefangen von der bei Austerlitz bis zu den letzten Salven des Zweiten Weltkriegs. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich bei einem ähnlichen Spektakel die Polen ausleben würden, die beide Weltkriege im Übermaß erlebt haben.

In Wirklichkeit ist ein Krieg eine grausame, rücksichtslose Orgie der Massengewalt; er mäht die Schuldigen und auch die Unschuldigen nieder, die, die sich wehren können und auch die Wehrlosen. In einem Krieg ist nur sehr wenig Platz für Gerechtigkeit. Auch diejenigen, die zu ihm gezwungen wurden und deren Sache eine gerechte ist, erwehren sich gemeinhin im kleineren oder größeren Ausmaß nicht der Übernahme der Methoden von Gewalttätern. Eine zivilisierte, demokratische Gesellschaft begreift deshalb zu Recht einen Krieg als Versagen und Entgleisung, als etwas, was zwar ab und zu geschieht, aber wo zugleich gilt, dass es nicht geschehen soll und darf.

Sinn der Friedensbestrebungen nach einem Krieg ist nicht die Vernichtung des Gegners (das hat sich nach dem I. Weltkrieg böse gerächt), sondern eine solche Bereinigung der Beziehungen zwischen den Staaten, die künftige Kriege ausschliesst. Eine gerechte Regelung, die die die Verwirklichung von etwas bedeutet, was sein soll, und nicht die Bestätigung dessen, was gerade ist. Sie basiert auf dem Glauben an ein vernünftiges Abkommen und die Versöhnung von Feinden.

Angesichts des Charakters des Krieges, und weil unmittelbar nach einem Krieg Stress und Emotionen noch aufgewühlt sind, sind die ersten Nachkriegsaugenblicke für den Abschluss eines stabilen und dauerhaften Friedens nicht allzu günstig. Die Regelung, die sich unmittelbar aus einem Krieg ergeben hat, unterliegt deshalb – wie alles, was Menschen tun – einer späteren kritischen Revision. Zumeist handelt es sich lediglich um die "Milderung der Folgen manchen Unrechts“ (eine glückliche Formulierung der tschechischen Vermögensrückstellungsgesetze), aber auch das hat seinen Sinn. Geschichte geschieht, indem die Menschen das kritisch revidieren, was sie in der Vergangenheit getan haben, und daraus Konsequenzen für die Gegenwart und die Zukunft ableiten. Fürchten wir uns nicht vor einer Revision: Nie hat sie jemanden umgebracht. Den Menschen und die Gesellschaft, die zu ihr fähig sind, macht sie stärker. Das, was zerstörend und betäubend wirkt, ist das hartnäckige Festhalten an Dingen, die ungerecht und deshalb unhaltbar sind.

Geschrieben für die tschechische Sendung von BBC, 20. Mai 2002