Von der Korrektur der Geschichte
Die Vergangenheit kann weder geändert noch die Geschichte korrigiert werden. So lautet das beliebte Bonmot, das heute die tschechischen Politiker sowie die tschechischen Publizisten benutzen, die sich im Schlepptau der Politiker befinden. Es ist eine recht bunte Gesellschaft, zu der sowohl der einstige tschechische Ministerpräsident und heutige christdemokratische Senator Petr Pithart als auch der Dramatiker und Publizist Karel Steigerwald gehören, wobei letzterem jedoch sicher nicht vorgeworfen werden kann, dass er sich im Schlepptau von Petr Pithart befinden würde.
Die Frage lautet, wie wir dieses Bonmot verstehen sollen.
Wenn sich beispielsweise die Deutschen und Österreicher für ihre Vergangenheit bzw. deren Schattenseiten entschuldigen und die Betroffenen entschädigen, dann geht es offensichtlich weder um eine Änderung der Vergangenheit noch um eine Wiedergutmachung der Geschichte. Wenn wir jedoch das Gleiche machen würden, dann würde es sich im Gegenteil um den Versuch einer Änderung der Vergangenheit und eine Korrektur der Geschichte handeln. Daraus würde hervorgehen, dass sich die Geschichte in eine fremde teilt, die korrigiert werden kann, und in die unsere, die irreparabel, besser gesagt, unverbesserlich ist. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die Entschuldigungen und Entschädigungen von den Deutschen und Österreichern irgendwie organisch zu ihrer Historie gehören, während das in unserem Fall völlig daneben wäre. Also, liebe Deutsche und Österreicher: Macht mit eurer Geschichte, was euch einfällt, aber unsere wird niemand antasten.
Ein weiteres Problem stellen in Tschechien die Rehabilitationen und Restitutionen dar. Wie gelang das Arrangement, dass sie weder eine Änderung der Vergangenheit noch eine Wiedergutmachung der Geschichte sind? Denn wenn wir nur drei Jahre vor den Beginn des "entscheidenden Zeitraums“, also vor die kommunistische Machtergreifung vom 25. Februar 1948, in das Jahr 1945, zurückkehren würden, als die Vertreibung der Deutschen begann, würden wir bereits die Vergangenheit ändern und die Geschichte korrigieren. Die mögliche Erklärung besteht darin, dass unsere Geschichte gerade am 25. Februar 1948 endete. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Gegenwart. Und manchmal sieht es wirklich fast so aus.
Oder stellen Sie sich vor, Ihnen hätte vor zehn Jahren jemand hunderttausend Kronen entwendet. Und jetzt treffen Sie ihn plötzlich vor dem Eingang zur U-Bahn. Er steht dort, verwahrlost, schmutzig, mit schütteren Haaren und zahnlosem Mund, riecht unangenehm und verkauft die Obdachlosenzeitung „Nový patron“. Und kaum erblickt er Sie, so fängt er an: Die Vergangenheit kann nicht geändert und die Geschichte nicht wieder gut gemacht werden. Sie haben dabei Ihre verschwundenen hunderttausend Kronen schon längst verschmerzt und auch, wenn das nicht der Fall sein sollte, nötigt sie allein der Anblick dieses menschlichen Wracks, sich endgültig von ihnen zu verabschieden. Das Einzige, was Sie sehen möchten, ist zumindest die Andeutung eines Bedauerns.
Die Reden, denen zufolge die Vergangenheit nicht geändert und die Geschichte nicht korrigiert werden kann, sind eine außerordentlich schamlose Form des Alibismus. Dass wir heute doch ein bisschen besser sind als unsere Vorfahren vor dreitausend Jahren, also das, wozu man pathetisch Fortschritt sagt, ist der unaufhörlichen Korrektur der Geschichte zu verdanken. Durch ihre Kritik, durch die Entscheidung, woran in Zukunft angeknüpft und was in Zukunft vermieden werden soll, worauf man stolz sein kann und wofür man sich schämen muss. Die Geschichte geschieht durch die unaufhörliche Richtigstellung der Geschichte. Sie ist nichts anderes als ein unendlicher Prozess der Selbstverbesserung.
22. April 2002