Farmer und Ferkel
Der im Pariser Exil lebende tschechische Publizist A. J. Liehm schilderte in der Literaturbeilage der linksorientierten Tageszeitung „Právo“ (26. 7.) ein Treffen mehrerer tschechischer Schriftsteller bei ihrem Kollegen Pavel Kohout im Sommer 1968: Sie wollten beratschlagen, wie man den damals als bolschewistischer Olymp für Auserwählte fungierenden Schriftstellerverband in eine normalere Organisation verwandeln könnte. Liehm schrieb: "Kohout führte uns zu einem großen Tisch im Garten und kommandierte: KP-Mitglieder nach links, die anderen nach rechts! Ein phantastischer Puppentanz setzte ein, wobei viele Teilnehmer zu ihrer Überraschung erfuhren, wo wer eigentlich hingehört. Bei den Alltagskontakten in den sechziger Jahren wurde diese Grenze nämlich häufig verwischt, ausradiert."
Das Problem mit der Verwischung und Ausradierung der Grenze wird allgemein beispielsweise im Epilog von Orwells „Farm der Tiere“ beschrieben. Die verblüfften Tiere schauen durch die Fenster eines Wirtshauses, wo Farmer und Ferkel gemeinsam an den Tischen sitzen. Dabei ist schon nicht mehr klar zu erkennen, wer eigentlich der Farmer und wer das Ferkel ist.
Ganz allgemein ist das die Schattenseite der sog. Roundtable, die wir in Mitteleuropa und vor allem in Tschechien so gern haben. Außer dem vom Herrn Liehm geschilderten Beispiel spielte sich bei uns etwas Ähnliches in den Jahren 1945, 1977 (Gründung der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“)und letztlich 1989 ab.
Die Wirklichkeit ist freilich komplizierter als die Modellsituation in Orwells Märchen für Erwachsene. Der Mensch ist von seinem Wesen her ein Sünder, und so trägt jeder Farmer den Keim eines Ferkels in sich: Manchmal genügt eine winzige Unaufmerksamkeit und die unselige Metamorphose setzt unaufhaltsam ein. Diese Gefahr hat auch ihre optimistische Kehrseite: Jedes Ferkel hat bis zu seinem Lebensende die unveräußerliche Chance, ein redlicher Farmer zu werden. Beide Prozesse – die Metamorphose vom Farmer zum Ferkel und umgekehrt – unterscheiden sich allerdings prinzipiell voneinander: Die Verwandlung in ein Ferkel geht reibungslos vonstatten, so wie wir nach den Strapazen der Tagesarbeit mit Erleichterung unter die Bettdecke kriechen. Der umgekehrte Weg ist mühselig und anstrengend wie eine Bergtour im Himalaya.
Dabei ahnen nicht nur die Farmer, sondern auch die Ferkel, dass eine Metamorphose des ersten Typs im Unterschied zu der anderen unerwünscht ist. Jedes Ferkel wäre gern ein Farmer, aber kein Farmer möchte ein Ferkel sein. Einerseits ist das schön und vielversprechend, andererseits löst das unter den Ferkeln einen gewaltigen Alibismus aus. Ferkel neigen dazu, vorzutäuschen, dass sie eigentlich schon Farmer geworden sind. Als Argument dienen ihnen die guten Vorsätze und der naive Idealismus, der ihre Schritte immer geleitet hat. Gute Vorsätze sind selbstverständlich nicht zu unterschätzen. Aber die Verwandlung vom Ferkel in einen Farmer beginnt erst mit ihrem ordnungsgemäßen Vollzug: In diesem Prozess wandelt sich der naive Idealist in einen - sagen wir – raffinierten Idealisten.
Deshalb ist im Augenblick sogenannter historischer Kompromisse zu bedenken, dass jedes Ferkel eine Chance hat, aber auch, dass jeder Farmer in Gefahr ist. Allein aus dem Grund, damit die Chance für die Ferkel erhalten bleibt und die Gefahr für die Farmer nicht ins Unerträgliche steigt, muss mit aller Kraft die klare und prinzipielle Trennlinie eingehalten werden, die das Farmerwesen von der Ferkelei trennt.
Dazu verhelfe uns Gott.
31. Juli 2001
Geschrieben für die tschechische Sendung von BBC