Vom negativen Patriotismus
In den sechziger Jahren, als sich für die jungen Leute in der damaligen "ČSSR" für einen winzigen Augenblick die Welt öffnete, haben wir das nationale Empfinden und somit auch den Patriotismus für etwas hoffnungslos Altmodisches gehalten, das längst überwunden ist. Das war eine verständliche Reaktion nach dem roten Chauvinismus des kommunistischen Ministers und Historikers Zděnek Nejedlý (und auch auf sein volkssozialistisches Brüderchen, das nicht viel besser war, nur wesentlich erfolgloser). Wir hätten gern zumindest in Gedanken den Eisernen Vorhang überwunden und wären ein bisschen europäischer und weltgewandter geworden.
Dass mir patriotische Gefühle nicht völlig fremd sind, habe ich indirekt und auf leicht negative Art feststellen müssen. 1965 gelangte ich unter kuriosen Umständen mit einer Touristengruppe erstmals im Leben in den Westen, nach Frankreich. Bei meinen Reisegefährten handelte es sich vornehmlich um Gesindel. Als wir zum Meer kamen, stellte einer von ihnen fest, dass er seine Badehose zu Hause vergessen hatte. Das brachte ihn nicht aus der Ruhe und er spazierte einfach in Unterhosen an den Strand. Dort verschwand er mir aus den Augen. Kurz danach sah ich, wie ihn zwei starke Männer – offenbar so etwas wie eine Sittenstreife – wegführten. Das Publikum amüsierte sich köstlich, während ich am liebsten im Boden versunken wäre. Und da wurde mir bewusst, dass ich ein Patriot bin: Wenn es sich um einen Inder gehandelt hätte, wäre mir das nämlich egal gewesen.
Im Rückblick wird mir klar, dass ich bereits Ende der fünfziger Jahre bei Auslandsreisen ähnliche Gefühle des negativen Patriotismus erlebt hatte. Das einzig zugängliche fremde Land war damals die DDR, die in dieser Zeit arm und grausam vom Krieg gezeichnet war. Als der Schnellzug aus Prag durch die Dresdner Vorstädte eilte, fuhr er an voll erblühten Gärten vorbei. In jedem stand die Ruine einer ausgebombten Villa. Es war wie in einem Horror.
Die deutschen Organisatoren bemühten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, den Ansprüchen der tschechischen Touristen gerecht zu werden. Unaufhörliche Beschwerden und Genörgel waren die Antwort. So etwas bietet ihr uns für unser Geld? Dabei waren diese Gruppenreisen ausgesprochen billig.
Gegenwärtig lösen bei mir hauptsächlich die Politiker der regierenden Demokratischen Bürgerpartei (ODS) Anwandlungen von negativem Patriotismus aus. Das gilt insbesondere dann, wenn sie über unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union sprechen. Staatspräsident und ODS-Ehrenchef Václav Klaus klagt, unser Beitritt zur Union werde in den Augen derer, die bereits in ihr sind, nicht die Rückkehr des verlorenen Sohns darstellen, auf den sich alle bereits fürchterlich gefreut haben, sondern nur die Adoption eines fremden Kindes, von dem sie nicht wissen, was in ihm steckt. Und Klaus betont in einem Atemzug: Alle müssen wissen, dass wir die moderne nationale Selbstgeißelung ablehnen und unser Land nicht als postkommunistisches Freilichtmuseum betrachten. Sein Parteigefährte Petr Nečas fordert uns wiederum auf: Erlangen wir von der EU alles, was wir können, und geben wir ihr nicht einen Deut mehr, als wir müssen.
Dabei geht es nicht nur um diese Dinge und nicht nur um die ODS. Die tschechische Politik drängt der Öffentlichkeit mit einer unverschämten Selbstverständlichkeit die Vorstellung auf, dass es Pflicht der europäischen Industrieländer sei, sofort und ohne weiteres mit uns die Früchte der langjährigen harten Arbeit ihrer Bürger zu teilen. Dass das, was wir ihnen jetzt am Anfang als Gegenwert anbieten können, höchstens die dummen Reden der Herren Klaus und Compagnons sind, übersehen sie großzügig. Die gerissenen Beamten des Außenministeriums pressen aus unseren Nachbarn die unterschiedlichsten Entschädigungen heraus, doch zugleich ist die tschechische Politik nicht bereit, die abscheulichen Nachkriegsverbrechen an den Deutschen und Ungarn zu kompensieren, geschweige denn, sie überhaupt anzuerkennen.
Kurzum: Der negative Patriotismus ist bei uns auf Rosen gebettet.
21. Mai 2001