Die Eigentümlichkeiten der tschechischen Selbstrefelexion
Die liberale tschechische Tageszeitung „Lidové noviny“ – eines der traditionsreichsten und angesehensten Blätter des Landes - widmete sich in einer ihrer Ausgaben dem Thema „Wie wir Tschechen uns wahrnehmen“. In diesem Zusammenhang veröffentlichte das Blatt mehrere Reaktionen von Lesern, die sich dazu im Internet geäußert hatten. Nur wenige dieser Kommentare belegten einen übermäßigen Nationalstolz, denn uns Tschechen ergreift ein überproportional starkes Selbstbewusstsein lediglich in historischen Ausnahmesituationen (so war z. B. kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe tschechischer Intellektueller davon überzeugt, dass uns eine wichtige Aufgabe als Vermittler zwischen dem Westen und Stalins Russland gebührt) und ist nicht von langer Dauer. Genauso beredt sind jedoch auch völlig entgegengesetzte Reaktionen. Zwei hübsche Beispiele wurden gerade von „Lidové noviny“ zitiert. Hier sind sie:
"Wir sind eher ein Volk ´fauler Hänse´. Immer hat es uns zu den ´Herren´ gezogen. Seit Menschengedenken. Wir haben zu den besten Bürgern der k. und k. Monarchie gehören. Wir waren loyale Bürger des Reiches, die besten Kommunisten. Und all das innerhalb eines einzigen Jahrhunderts. Doch jeder hat Angst, das laut zu sagen, um ja nicht Anstoß zu erregen. So sind wir leider. Mich freut das kein bisschen, aber in der Wahrheit ist die Freiheit. Nur wenige Völker sind derart ´käuflich´.“
Und der zweite Auszug: "Die Tschechen? Lächerlich. Denunzianten, Opportunisten, lachende Bestien. Faul, aber mit Anspruch auf das Beste und Teuerste. Freitags fällt in der Arbeit nach dem Mittagessen die Klappe. Wir müssen im Wochenendhaus den Zaun streichen und den Garten pflegen. Der Freitag ist ein kleiner Samstag. Wir haben kein Geld, aber die Kneipen sind brechend voll. Und dann sollten die Tschechen nicht vergessen, sich zu bedauern, dass sie zwar die Besten und Klügsten sind, aber die Welt sie nicht versteht."
Ergüsse dieses Typs sehen auf den ersten Blick wie unbarmherzige Selbstkritik aus. In Wirklichkeit steckt in ihnen noch etwas Falscheres als in Äußerungen übertriebenen Selbstbewusstseins. Sie sind ihre Kehrseite und ihr Spiegelbild.
Vor allem aber beleidigen sie mich persönlich: Nie habe ich mich zu den ´Herren´ hingezogen gefühlt. Nie war ich Kommunist. Ich habe meiner Meinung nach auch keine Angst, das, was gesagt werden muss, laut zu sagen. Ich habe niemanden denunziert und war auch kaum opportun. In Wirtshäusern bin ich ein seltener Gast, weil ich keine Zeit dafür habe. Und vor allem: ich kenne eine Menge Menschen, die das ebenfalls von sich sagen können, häufig sogar mit noch größerer Berechtigung als ich. Ich verbitte mir, dass jemand in unserem Namen derart weinerliche und lügnerische Tiraden vorträgt.
Zweitens: Die in diesen Wortschwällen vorgetäuschte historische Pseudoreflexion ist obskur. Falls wir wirklich zu den besten Bürgern der k. und k. Monarchie gehört haben, dann weiß ich nicht, was daran schlecht sein sollte. Insofern wir nicht die Raubritter-Moral des verfaulenden Bolschewismus teilen. "Unsere Politik kann nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht vom wirklichen und starken Interesse am Schicksal Österreichs getragen wird", schrieb der spätere Gründer und erste Staatspräsident der Tschechoslowakei, T. G. Masaryk, in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Die Behauptung, irgendwelche "wir" wären loyale Bürger des Dritten Reichs gewesen, ist eine Lüge. Jeder sollte im eigenen Namen sprechen. Und den einstigen Stellvertreter des Reichsprotektors für Böhmen und Mähren und Organisator des Holocaust, Reinhard Heydrich (der die Tschechen „lachende Bestien“ genannt hatte), als Zeuge bei der vorgetäuschten nationalen Selbstreflexion anzurufen, halte ich für unsachlich und widerwärtig.
Weinerliche Selbsterniedrigungen dieser Art sind genauso unfruchtbar wie übel riechendes Selbstlob. Nichts wird dadurch bewegt. Wir sind einfach so, was wollt ihr mehr.
Kritik im wahren Sinne des Wortes ist freilich notwendig – und zwar konkrete Kritik: Das und das haben wir schlecht gemacht. Wir müssen dies klar formulieren und einander mitteilen. Wir müssen darüber miteinander sprechen. Wir müssen uns dafür schämen – aber nur, um uns beim nächsten Mal davor zu hüten. Wenn wir das können, haben wir das Recht, stolz darauf zu sein. Und falls wir gerade in einem gewissen Augenblick und in einer bestimmten heiklen Angelegenheit nur wenige sind, dann sollten wir nicht vergessen, dass einem russischen Sprichwort zufolge ein Gerechter genügt, um ein ganzes Dorf zu retten. Eine richtige Sache findet ihre Anhänger.
Zu einer derart verstandenen Kritik bekannte sich der tschechische Politiker, Journalist und Übersetzer Karel Havlíček Borovský, als er mit dem leeren Patriotismus und den slawischen Illusionen kämpfte. T. G. Masaryk, als er die Echtheit der Grünberger und der Königinhofer Handschrift in Zweifel zog und sich dem tschechischen Antisemitismus entgegen stellte. Der tschechische Philosoph und bedeutende Denker Emanuel Rádl, als er das Verhältnis des tschechoslowakischen Staates zu den Minderheiten anprangerte. Auch sie gehörten zu diesen „wir“, über die sich die Autoren der oben zitierten Ergüsse derart verächtlich äußern. Besser gesagt: Sie stellen mehr als andere dieses „wir“ dar. Im Unterschied zu jenen, die im Verborgenen über unsere angeborene Schlechtigkeit jammern.
8. April 2001