Solidarität in der EU?
Die estnische Regierung hat beschlossen, das Denkmal für die russischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind, zu entfernen. Das Denkmal stand bisher mitten in Tallin und soll nun auf einem Militärfriedhof, der ungefähr drei Kilometer entfernt ist, neu aufgestellt werden. Gleichzeitig sollen auch die sterblichen Übereste von fünfzehn gefallenen russischen Soldaten umgebettet werden, die bei der Wiederbesetzung von Estland gefallen sind. Diese waren in den Grundstein eingebettet. Die Exhumierung wurde von einem evangelischen und einem orthodoxen Gottesdienst begleitet.
Die Entscheidung der estnische Regierung ist einerseits logisch, denn nach europäischen Gewohnheiten gehören Tote auf einen Friedhof und nicht auf einen Marktplatz, und außerdem begreiflich: Das Denkmal wurde im Jahre 1947 errichtet und sollte ohne Zweifel die erneuerte russische Macht über die zeitweise verlorene Kolonie Estland symbolisieren. Die Esten verstehen dies jedenfalls so, und das ist nicht verwunderlich: Die russischen Soldaten, die hier begraben waren, fielen im Kampf gegen einen Aggressor, der heimtückisch ihre Heimat überfallen hatte. Gleichzeitig fielen sie aber leider auch im Kampf für die Unterwerfung eines fremden Landes, auch wenn sie das nicht wußten.
Die Versetzung des Denkmals erregte die russischsprachigen Einwohner Estlands, immerhin 400.000 in einen Land mit 1,5 Millionen Einwohnern. Junge Gewalttäter randalierten im Zentrum von Tallin, insbesondere in Geschäften mit Alkohol. Die Unruhen verbreiteten sich auch in andere Städte. Ein Mensch verlor dabei sein Leben, mehrere wurden verletzt (unter anderen auch Polizisten), Hunderte wurden verhaftet.
Die Reaktion der russischen Minderheit, die während der russischen Fremdherrschaft eine privilegierte Stellung innehatte, ist begreiflich. Da Estland ein geeignetes Objekt für die Demonstration von Stärke ist, ist auch die scharfe Reaktion aus Moskau nicht verwunderlich: Minister Lavrov erklärte, dass diese Ereignisse Nachwirkungen für die Beziehungen zu Estland und der EU haben werden. Der Rat der Föderation forderte von Präsident Putin den Abbruch der diplomatischen Beziehungen, und der stellvertretende Ministerpräsident Ivanow rief zu wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Estland auf.
Was aber ganz unbegreiflich ist, ist die Reaktion der europäischen Länder. Was Estland gemacht hat, ist doch nachvollziehbar. Tote gehören nun mal auf einen Friedhof. Auch in Prag sind die gefallenen ruassischen Soldaten auf einem Friedhof beerdigt. Estland ist eindeutig unter Druck einer Weltmacht geraten, von der es über ein halbes Jahrhundert lang besetzt worden war. Dieses Land ist nicht nur hundert mal kleiner, was die Bevölkerungszahl angeht, sondern der Fläche nach sogar 377 mal kleiner – von Größe des Waffenarsenals überhaupt nicht zu reden. Anderseits ist es Mitglied der EU und der NATO. Man könnte meinen, dass die Verbündeten zumindest das Maß an Solidarität zeigen, das der Anstand verlangt. Das wäre insbesondere von den Ländern zu erwarten, die vor nicht allzu langer Zeit das Schicksal Estlands teilten. Aber das ist leider ein Irrtum.
Die Bundeskanzlerin des stärksten europäischen Landes, die zur Zeit auch Ratspräsidentin der EU ist, forderte Präsident Putin und den estnischen Premier Ansip telefonisch zur Deeskalation auf. Das ist wirklich toll, wenn der Hirte beide, Lamm und Wolf, ermahnt, Ruhe zu geben. Die Bundeskanzlerin erteilte beiden Seiten den fürstlichen Rat: Die ganze Angelegenheit sollte zwischen dem russischen und dem estnischen Parlament gelöst werden. Und so wäscht sich die EU nach Art des Pontius Pilatus die Hände.
Auch der tschechische Präsident Klaus, nachdem er mit knapper Not einer erniedrigenden Abreibung im Kreml entgangen war, goss bei einer Diskussion mit Studenten der Lomonosov-Universität Wasser auf die Mühlen der russischen Meinung. Es sagte, dass man durch den Abriss von Denkmälern – hier irrte der Präsident, denn es ging ja nur um eine Versetzung – die Geschichte nicht ändern oder besser machen könne. Wenn man vom übrigen absieht: Vom Vertreter eines Landes, das im Abreißen von Denkmälern wahrscheinlich den Weltrekord hält, kommt das gerade recht.
Und die tschechischen Journalisten? Petra Procházková rät in diesem Blatt – den Russen: Sie sollten mit Anstand gegen die Beseitigung der russischen Soldatengräber protestieren (auch Frau Procházka irrt, denn es handelt sich um eine Verlegung), aber sich vorher für die Okkupation entschuldigen. Ich zweifle, dass die Russen den Rat von Frau Procházka brauchen. Hilfe brauchen die Esten.
Es bleibt die grundsätzliche Frage: Wozu ist eigentlich die estnische Mitgliedschaft in der EU und in der Nato gut? Und wozu die unsere, wenn sich z. B. der deutsche Außenminister frech einmischt, sobald wir einem anderen Verbündeten (einem stärkeren und vertrauenswürdigeren dazu als es gegenwärtig die BRD ist) auf unserem Gebiet die Möglichkeit bieten, eine Radarstation zu errichten? Dass wir es nicht schaffen, uns in dieser Situation solidarisch mit Estland zu verhalten, ist nicht nur unanständig, sondern auch selbstmörderisch. Wenn es nämlich Rußland gelingt, die baltischen Staaten zu „pazifizieren“, sind wir als der nächste an der Reihe. Der russische Druck im Hinblick auf die Stationierung der amerikanischen Militärbasis sagt alles.
Lidove noviny den 30.April 2007
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung:
Otokar Löbl Frankfurt am Main
Förderverein der Stadt Saaz/Žatec e. V.
Dr. Andreas Kalckhoff Stuttgart