Und sie existieren doch
Man könnte gegen den Text der Erklärung vieles einwenden. Die Theorie von der Ursache und ihren Folgen bedeutet einen seltsamen Einbruch der Physik in die Geschichte. Es ist wohl wahr, dass die Tschechen nach dem Kriege nie zu so brutaler Gewalt gegriffen hätten, wenn davor nicht das Beispiel des Nazi-Regimes gestanden hätte. Diese Begründung hat jedoch eine unangenehme Rückseite: Einem solchen Beispiel sollte man eigentlich nur in bescheidenem Maße nacheifern. Außerdem ist der Mensch in jedem Augenblick der Geschichte im wesentlichen frei; er entscheidet frei, wie er auf die unmittelbare Vergangenheit antworten soll. Die Theorie vom Stoß, auf den notwendigerweise ein ebenso starker Gegenstoß folgt, entspricht nicht der Grundidee unserer Zivilisation..
Da stellt sich die Frage der „unschuldigen Menschen“, denen durch die Vertreibung viel Leid und Unrecht zugefügt wurde. Man sollte nicht vergessen, dass auch gegen „Schuldige“ bei weitem nicht alles erlaubt ist, besonders nicht solche Maßnahmen wie die Deportierung. Die hatte nicht einmal in dem so seltsamen Recht eine Stütze, wie es in der Nachkriegstschechoslowakei gültig war. Die diplomatischen Worte, man respektiere die Tatsache, daß jede Seite eine andere Rechtsauffassung habe, bedeuten in der Tat: Hier ist doch etwas offen geblieben, worauf sich die Verhandlungspartner nicht einigen konnten. .
Erwünschte Disharmonie
Ein politischer Kompromiss ist an sich nichts Schlechtes. Doch wie bei jedem Kompromiss muss man fragen, was er erledigt und was er offen lässt. Wurde etwas abgeschlossen, was eigentlich offen bleiben sollte, und bleibt etwas offen, was eigentlich abzuschließen war? Aus den tschechisch-deutschen Beziehungen ist ein Problem verschwunden, das im Stande war, die sonst guten Beziehungen wesentlich zu stören. Das Wüten der tschechischen Extremisten ist begreiflich: Disharmonie zwischen der ČR und ihrem mächtigen westlichen Nachbarn bedeutete für sie stetigen Aufwind..
Die deutsche Regierung hat sich wieder einmal entschuldigt für Leid und Unrecht, die das Nazi-Regime über die Tschechen gebracht hat. Das kann auf tschechischer Seite jetzt niemand mehr übersehen. Beide Seiten sind sich darin einig, dass zugefügtes Unrecht nicht ungeschehen gemacht, sondern allenfalls gemildert werden kann, und dass dabei kein neues Unrecht entstehen darf. Beide Seiten haben die Überzeugung ausgedrückt, dass das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört und dass sie ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten. Das alles könnte zu einer Milderung der ein wenig hysterischen Angst der tschechischen Öffentlichkeit vor der deutschen Bedrohung und zur inneren Beruhigung der ČR beitragen. Dieses Kapitel ist also abgeschlossen..
Für die Tschechen ist die Schlüsselstelle der Erklärung die Ziffer 3. Die tschechische Seite bedauert darin, dass durch die Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen viel Leid verursacht und Unrecht geschehen ist. Ausdrücklich erwähnt werden dabei Enteignung und Ausbürgerung sowie der kollektive Charakter der Schuldzuweisung. Die Formulierung lässt nur in dem Sinne etwas offen, dass sich die Tschechen in der folgenden Zeit darüber klar werden sollten, was das für sie selbst bedeutet. .
Die Vertreibung der Sudetendeutschen ist im allgemeinen tschechische Bewusstsein etwas, was in einer außergewöhnlichen Situation durchaus zulässig war. Faktisch wird das durch die Tatsache bestätigt, dass die entsprechenden Präsidentendekrete weiter Bestandteil der tschechischen Rechts bleiben (nicht aber, wie manche meinen, sogar zu seinen Fundamenten gehören). Dagegen wurden ähnliche Gewaltakte der fünfziger Jahre (Enteignungen, beträchtliche Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, Deportationen) verurteilt und ihre gesetzlichen Grundlagen abgeschafft. Die Theorie über Ursache und Wirkung passt jedoch auf die Periode von der Nachkriegszeit in die fünfziger Jahre ebenso wie auf die Etappe Kriegs-Nachkriegszeit. Diesen Widerspruch sollte man lösen – und lösen können ihn nur die Tschechen allein. Sie brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben, dass sie dabei jemand von außen stören wird, und können sich deshalb darauf nicht mehr hinausreden..
Man kann freilich nicht jene außer acht lassen, die in die Erklärung nicht – oder nicht angemessen – eingegangen sind, vor allem die böhmischen Juden. Die Föderation der Jüdischen Gemeinden in der ČR hat mit Recht dagegen protestiert, dass das an den Jüden begangene Unrecht nicht erwähnt wird. Die böhmischen Juden waren zweifach betroffen: erst durch die brutalen Repressionen der Nazis; später wurden nicht wenige von ihnen entweder von ihren tschechischen Mitbürger oder vom tschechischen Staat bestohlen (falls sie Tschechisch sprachen), oder vom tschechischen Staat bestohlen und vertrieben (sofern sie Deutsch sprachen). Eine demütige Entschuldigung wäre hier am Platze, und man kann sich nur damit trösten, dass vielleicht noch nicht das letzte Wort gesprochen ist..
Dann die tschechischen Widerstandskämpfer. Es war ein politischer Fehler der deutschen Seite, auf Veranlassung der Sudetendeutschen deren Entschädigung praktisch zu blockieren. Die Vorstellung, die tschechische Öffentlichkeit und Politik könne so veranlasst werden, um ihrer Nazi-Opfer willen gewisse Kompromisse in der Sache der Sudetendeutschen zu machen, überschätzt den tschechischen Altruismus ungemein. Das war politisch nicht sinnvoll und rührte überflüssige Emotionen auf. .
Und endlich die Sudetendeutschen. Die Erklärung spricht über deren Vergangenheit, nicht aber über ihre Gegenwart. Sie zieht nicht in Betracht, dass sie noch existieren, dass sie ihre politischen Organisationen und ihre Vorstellungen über die Zukunft haben. Man könnte den Eindruck bekommen, dass sie sozusagen ex nunc für unexistent erklärt sind. Es handelt sich jedoch um eine deutsch-tschechische, nicht um eine sudetendeutsch-tschechische Erklärung. Damit, dass dieses Problem auf der Ebene der deutsch-tschechischen Beziehungen gewissermaßen abgeschafft worden ist, ist es nicht gelöst. Es gilt nach wie vor, dass Tschechen und Sudetendeutsche darüber sprechen müssen. Und falls die tschechische Regierung zur Zeit dazu noch nicht bereit ist, müssen das andere auf der tschechischen Seite für die Zukunft vorbereiten..
Deutsches Babylon
Es ist jedoch unleugbar, dass durch die Erklärung auch das ursprüngliche politische Konzept der sudetendeutschen Führung in Frage gestellt worden ist. Sie sollte die biblische Vorstellung einer kollektiven Rückkehr aus dem deutschen Babylon in die ehemalige Heimat – möglichst schnell und begleitet von einer gewissen Vermögensrestitution, auf internationales Recht gestützt und von der Bundesrepublik sowie internationalen Institutionen intensiv gefördert – jetzt überprüfen. Man sollte sich und die anderen auch nicht darin täuschen, dass die Eigentumsfrage in dieser Vorstellung an erster Stelle stand. Ohne eine Rückgabe wäre doch die Übersiedlung für Leute, die das bequeme Lebensniveau der BRD gewohnt sind, nur sehr wenig anziehend und damit praktisch erledigt. Die paradoxe Tatsache, dass der jetzige streng ablehnende Standpunkt der Sudetendeutschen zu der Erklärung eigentlich das einzige ist, was der Akzeptanz der Deklaration auf tschechischer Seite wirksam helfen kann, unterstreicht nur die Notwendigkeit für die Sudetendeutschen, ihre Lage völlig neu zu überdenken..
Es stellt sich heraus, dass der tschechisch-sudetendeutsche Ausgleich und die tschechisch-sudetendeutsche Versöhnung eines viel größeren Zeitaufwandes bedürfen und vielleicht auch modifizierterer, bescheidenerer Dimensionen. Es gibt jedoch nicht den geringsten Grund, darauf zu verzichten. Die Sache gerecht zu ordnen, ist nicht nur die Frage politischer Deklarationen, sondern ebenso langfristiger und mühevoller politischer Arbeit. Zweifellos gibt es auf tschechischer Seite Leute, die bereit sind, diese Arbeit anzugehen. Falls die Erklärung angenommen wird – und diese Frage stellt sich besonders im tschechischen Parlament – kann sie die positive Basis für das noch zu Leistende bilden.
Süddeutsche Zeitung Nr. 16
Dienstag, 21. Januar 1997