Übertriebene Angst vor dem großen Nachbarn

Für sich genommen setzt die gemeinsame tschechisch-deutsche Erklärung, die das Abgeordnetenhaus des tschechischen Parlaments inzwischen mit großer Mehrheit gebilligt hat, einen positiven Doppelpunkt. Nicht nur für die weitere Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch für das Nachdenken der Tschechen über sich selbst.

Dabei denke ich besonders an die Ziffer 3 der Erklärung. Erstmals sprechen die frei gewählten Vertreter des tschechischen Volkes ihr Bedauern darüber aus, dass mit der Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit ihrer Enteignung und Ausbürgerung „unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt“ – und ihnen obendrein die kollektive Schuld an ihrem schrecklichen Schicksal zugewiesen wurde.

Dies ist eine historische Premiere. Die Tschechische Republik befreit sich vom jahrzehntelang gehüteten Tabu des Schweigens über das Unrecht. Die Deutschen können die Bedeutung dieser Öffnung für Tschechien selbst vielleicht kaum erahnen.

Ebenso ist die Ziffer 4 der Deklaration hervorzuheben. Beide Länder lassen beiderseits geschehenes Unrecht der Geschichte angehören und wollen ihre Nachbarschaft „nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten“.

Ein weiser Entschluss. Wenn die Politiker sich daran halten, kann er entscheidend zur Milderung der übertriebenen, beinahe hysterischen Angst der tschechischen Gesellschaft vor dem „mächtigen Nachbarn“ Deutschland beitragen. Diese Angst mag für viele, vor allem jüngere Deutsche unbegreiflich sein. Aber leider ist sie sehr real.

Diese Angst hat in Tschechien bisher ein unvoreingenommenes Gespräch über historische Tatsachen, die für uns selbst unangenehm sind, weitgehend blockiert. Die Präambel der Versöhnungserklärung spricht davon, daß das Unrecht nicht ungeschehen gemacht, sondern „allenfalls gemildert“ werden kann. Nur „allenfalls“? Wir können mildern – darauf kommt es jetzt an. Als tschechischer Patriot hoffe ich, dass mein Volk und seine gewählten Vertreter die innere Freiheit finden, auch mit sich selbst ehrlich zu sein. Und dass wir endlich den viel zu lange vermiedenen Dialog mit den Sudetendeutschen aufnehmen.

Die Art und Weise jedoch, wie das tschechische Parlament die Erklärung letztendlich gebilligt hat, kann keinesfalls als korrekt gelten, sondern droht die positiven Wirkungen des Dokuments sogar wesentlich zu beeinträchtigen. Ich meine nicht das Wüten der Kommunisten und der nationalistischen Republikaner; mit derartigen Entgleisungen muß man in einer noch nicht ganz stabilen Demokratie rechnen.

Beruhigend wirkt die Tatsache, daß die tschechischen Gesetzgeber nicht davon lassen konnten, die Erklärung mit einer einseitig interpretierenden Einführung zu versehen. Daraus entsteht eine riskante Asymmetrie zum Verhalten des Deutschen Bundestags, der auf jeden wertenden Zusatz verzichtet hat.

Zwar bekräftigt das Parlament in Prag nochmals den beiderseitigen Willen, die gemeinsame europäische Zukunft nicht mit der Vergangenheit zu belasten. Dann aber lässt es an dieser Stelle ein klares Wort zur Vergangenheit im Sinne der Ziffern 2 und 3 der gemeinsamen Deklaration vermissen. Eben deshalb wird die Interpretation einseitig.

Und schließlich: Das tschechische Abgeordnetenhaus billigt die tschechisch-deutsche Erklärung „gemäß der Darstellung des Ministerpräsidenten und des Außenministers und aufgrund dieser Regierungsbegründung“.

Haken an der Sache: Jene Begründung verwendet mehrmals Formulierungen, die mit dem Text der tatsächlichen Erklärung nicht übereinstimmen und den Rahmen des Verabredeten überschreiten.

Der Mangel an Logik und Folgerichtigkeit auf tschechischer Seite schränkt den tatsächlichen politischen Wert der Erklärung wesentlich ein. Es ist nicht auszuschließen, dass Tschechen und Deutschen deshalb erneut ein unendlicher Streit um Interpretationen bevorsteht.

Focus 9, 1997