Anschluß an den Heilungsprozeß finden

Was bedeutet der 50. Jahrestag des Kriegsendes für uns Tschechen? Einen wesentlichen Einfluß auf die Sichtweise üben nach wie vor die Erfahrungen der Jahre 1938-1945 aus: vor allem das Trauma des Münchener Abkommens und die Besetzung der böhmischen Länder im März 1939. Es war übrigens der erste internationale Schritt Hitlers, der eine nackte ideologische Rechtfertigung bedeutete und ohne eine ideologische Rechtfertigung geschah. Die nachfolgende Entwicklung in dem sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren kann gewiss nicht mit der Lage in Polen oder im besetzten Teil der UdSSR verglichen werden. Aber auch im Protektorat herrschte Terror, begleitet von erniedrigenden Schikanen gegen die Menschen. Dieses Vorgehen hatte auch psychologische Folgen – weil die Tschechen den Reichsdeutschen gegenüber bis dahin traditionell Respekt und Achtung empfunden hatten.

Dass die den Deutschen nicht nur zahlenmäßig unterlegene tschechische Gemeinschaft auf die erlittene Demütigung dann unangemessen bis hysterisch reagierte, ist zwar nicht zu rechtfertigen, aber doch verständlich. Schwer zu verstehen bleibt dagegen das totale Versagen der tschechischen Elite angesichts des massenhaft auftretenden Hasses und des Verlangens nach Rache. Sie hat diese Auswüchse nicht nur nicht gedämpft, sondern sie sogar angestachelt und versucht, davon politisch zu profitieren.

Nicht minder wichtig in diesem Zusammenhang ist der irrationale Kurs, den die Exilführung unter Beneš bereits lange vor Kriegsende einschlug: Sie legte das Schicksal des Landes in Stalins Hand, er hatte faktisch ein Veto-Recht: etwa bei der Annahme, beziehungsweise Ablehnung des Marshall-Plans 1947. Die Beneš-Führung stellte das politische System auf die Grundlage einer bedingungslosen Zusammenarbeit mit der von Moskau gesteuerten kommunistischen Partei. Sie ließ sich auf eine Beschneidung des demokratischen Parteienspektrums durch das Verbot von „rechtsgerichteten“ Parteien ein. Zurück in der Heimat legte die Beneš-Führung mit der „Nationalisierung“ der Großindustrie, der Banken usw. die Grundlage für die Staatswirtschaft. Und schließlich hebelte sie die bürgerlichen Grundrechte und Freiheiten aus – durch die kollektive Entrechtung und Vertreibung der deutschen Bürger (wie auch die Entrechtung der Ungarn in der Slowakei). Die nichtkommunistischen Politiker übersahen, dass sie – mit Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit – an den eigenen Stühlen sägten. Die „deutsche Gefahr“ vor Augen, begaben sie sich in die Arme des „russischen Bären“.

All dies konnte die tschechische Gesellschaft bislang noch nicht ganz begreifen und verarbeiten. Deshalb sieht man bei uns den Zweiten Weltkrieg immer noch als ein Paradebeispiel für ein historisches Ringen des Guten gegen das Böse, in dem schließlich das Gute siegt. Übersehen wird beispielsweise, daß der Nährboden für Nazi-Regime im Versailler System angelegt war.

Vielen meiner Mitbürger ist auch nicht klar genug, dass die Westalliierten Hitler-Deutschland nur besiegen konnten, indem sie sich mit der rückständigen östlichen Tyranei, der Sowjetunion, verbündeten und infolgedessen auch die Früchte des Sieges mit ihr teilen mussten. Und schließlich fällt es uns Tschechen immer noch schwer, uns einzugestehen, dass das Kriegsende mit schrecklichen Grausamkeiten auf beiden Seite verbunden war. Gewiss, mit dem Terror haben die Nationalsozialisten angefangen. Doch die massiven Luftangriffe auf deutsche Städte, brutale Übergriffe gegen die deutsche Zivilbevölkerung und insbesondere die anschließenden Deportationen – das alles gehört ebenfalls zu dem Gesamtbild des Zweiten Weltkriegs.

Die Tschechen haben erst jetzt, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, das Gefühl, dass der Weltkrieg für sie beendet ist. Doch die unverarbeitete Vergangenheit, eine unterschwellige Angst vor dem starken deutschen Nachbarn, den man auch ein wenig um seinen Wohlstand beneidet, sowie das eigene unreflektierte schlechte Gewissen wegen der Vertreibung der Sudetendeutschen bilden den Nährboden für Mythen. Diese verhindern wiederum, dass die Wunden der Vergangenheit heilen. In Westeuropa hat dieser Abbau von Animositäten gegenüber Deutschland bereits Ende der vierziger Jahre begonnen. Für die Tschechen ist es von geradezu schicksalhafter Bedeutung, den Anschluss an diesen Prozess zu finden.

Aus dem Tschechischen übersetzt von Alexander Loesch.
Der Tagesspiegel, Sonntag, 7. Mai 1995/nr. 15 260