Osteuropa verträgt offene Worte
Am 8. November gab Bundespräsident Köhler dem "General-Anzeiger" ein Interview, in dem es auch um die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach 1945 ging. Auf die Frage, wie in Deutschland der Verbrechen der Vertreibung gedacht werden könne, ohne daß sich die Nachbarstaaten vor den Kopf gestoßen fühlen, antwortete Köhler: "Es muß zunächst ganz klar gesagt werden, wer den Krieg und die Verbrechen ausgelöst hat: Es war Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft. Dieser Ausgangspunkt ist unverzichtbar. Dann geht es darum, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in ihrer ganzen Komplexität in einen europäischen Kontext zu stellen, um keine Wunden aufzureißen. Das kann gelingen. Ich sehe auf allen Seiten gute Demokraten, gute Europäer und Menschen, die wollen, daß die ganze geschichtliche Wahrheit bewahrt und erinnert wird."
Ich begreife wohl, daß sich die Deutschen und daher auch der deutsche Bundespräsident verpflichtet fühlen, daran zu erinnern, daß die Deutschen es waren, die mit der Kette der Grausamkeiten begonnen haben. Allerdings besteht doch ein großer Unterschied zwischen dem, der seine Schuld korrekt gesteht, und dem kleinen Angeber, der, wenn man ihn bei einer Lumperei ertappt, auf den anderen verweist und ruft: bitte, bitte, er hat damit angefangen. Und in dieser Position befindet sich leider eine Reihe von osteuropäischen Politikern.
Eine Unmenschlichkeit, die jemand an unseren Völkern begangen hat, ist kein hinreichender Grund dafür, daß wir es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Die Geschichte ist eben nicht nur eine unendliche Abfolge von Reaktionen unreflektierter rabiater Choleriker auf die Taten anderer unreflektierter rabiater Choleriker. Die Geschichte besteht vor allem aus den Taten von Menschen, die frei darüber entscheiden, was sie für richtig halten und was nicht. Sie sind von Gründen, nicht einfach von "Ursachen" geleitet, und nur deshalb können sie sich aus dem reinen Ursache-Wirkung-Zusammenhang befreien.
Die westliche Zivilisation gründet auf einigen Prinzipien, die wir im Osten ein bißchen vergessen haben: daß auch der Feind ein Nächster ist, daß man dem Nächsten vergeben und auf Böses mit Gutem antworten soll. Der tschechische Staatsmann T. G. Masaryk hat einst gesagt, daß es sich dabei nicht um "erhabene", sondern um praktische Prinzipien handelt. Das ist wahr: Sie ermöglichen es, das Ausmaß des Hasses in der Gesellschaft zu reduzieren, und dadurch machen sie die Welt für die Menschen verläßlicher und besser bewohnbar.
Ich begreife, warum der deutsche Bundespräsident gerade das gesagt hat, was ich eingangs zitiert habe. Zugleich aber halte ich es - als Tscheche - für meine Pflicht, daran zu erinnern, daß man auch durch die größten Verbrechen nicht rechtfertigen kann, was ihnen gefolgt ist; man kann es damit zwar erklären, aber das ist etwas ganz und gar anderes. Wir mußten im Jahre 1945 keineswegs gerade das machen, was wir gemacht haben. Wir hatten tausend andere und bessere Möglichkeiten. So ist es immer in der Welt. Eine selbstbewußte Gesellschaft (und ich wünsche mir, daß die tschechische Gesellschaft selbstbewußt wird) sollte die Diskussion darüber, wer angefangen hat, nicht als ein Alibi für sich benutzen. Leider aber ist dies zur Zeit sehr oft der Fall.
Noch eine methodische Bemerkung. Natürlich wäre es sehr schön, wenn man über die Schuld der Vergangenheit sprechen könnte, ohne dabei alte Wunden aufzureißen. Leider jedoch ist dies unmöglich. Was mit der Schuld, mit dem Eingeständnis dieser Schuld und mit der Reue zusammenhängt, tut immer weh. Europa ist heute - 67 Jahre nach dem Münchner Abkommen - wieder vom Appeasement besessen: Wie soll man es anfangen, damit sie uns nicht böse sind, die Tschechen und die Polen oder - ein noch viel schlimmerer Fall - die randalierenden jungen Moslems in Paris und diejenigen, die die Attentäter von Madrid inspiriert haben?
Ich fürchte, daß es oft besser ist, gewisse Sachen direkt und offen zu sagen, statt zu versuchen, sie aus zu großer Rücksichtnahme abzumildern und damit auch zu vernebeln und unklar zu machen. Sie verlieren dann an Verständlichkeit und Dringlichkeit. Der jeweilige Gesprächspartner kann dies als ein Zeichen der Schwäche interpretieren, sich aber auch, und zwar zu Recht, gekränkt fühlen: Warum hält mich der andere für unfähig, ein offenes Wort zu ertragen?
Die Welt, 1. Dezember 2005