Das Horror-Bild Hitlers
Bis heute fasziniert Adolf Hitler die demokratische Welt wie die Kobra das Kaninchen. Besonders betroffen ist verständlicherweise Deutschland. Auch die tschechische Gesellschaft reagiert auf diese historische Figur sensibel.
Aber warum ausgerechnet die tschechische Gesellschaft? Der überwiegende Teil der heute Lebenden ist doch von nahezu 50 Jahren Bolschewismus weitaus mehr gezeichnet als von der blutigen, aber kurzen Episode der deutschen Okkupation. Einen Verdienst daran haben die Kommunisten, die während ihrer Zeit bis 1989 keine Gelegenheit ausließen, um die Greueltaten der Deutschen in lebendiger Erinnerung zu halten. Der braune Terror sollte den eigenen verdecken. Und diese Schemata nutzen bis heute zahlreiche tschechische Historiker: Hitler und die Verbrechen der Deutschen waren die Ursache, die tschechischen Verbrechen der Nachkriegszeit eine Folge. So wird der deutsche Diktator zu einem Alibi. Sein Horror-Bild wird umhegt und gepflegt. Soll die Konstruktion der eigenen Geschichte nicht einstürzen, darf dieses Bild nicht verloren gehen.
Bei den einstigen Alliierten im Wes-ten ruft der Name des deutschen Diktators häufig ein schlechtes Gewissen hervor. Die westlichen Demokratien mussten mit Stalins Imperium gegen Hitler ein Bündnis schließen. Sie waren dazu gezwungen. Trotzdem konnte ein grundlegender Konsens mit dem russischen Diktator nicht gefunden werden. Das versuchten die Politiker des Westens wenigstens durch einen Scheinkompromiss zu überdecken. Daraus resultierte das problematische Potsdamer Abkommen, mit dem die deutsche Bevölkerung in den unter russischem Einfluss stehenden Gebieten weitgehend für vogelfrei erklärt wurde. Auch die Vereinten Nationen sind ein Ergebnis dieser Kompromisspolitik, die eine Grundlage für die Kooperation des Westens mit dem russischen Diktator werden sollte. Allerdings beruht sie bis heute auf utopischen sozialen Phrasen, die von demokratischem Beiwerk geschmückt werden. Und die große Mehrzahl der Mitglieder nimmt diese gar nicht ernst.
Das Resümee: Das Bündnis mit Stalin gegen Hitler war eine historische Notwendigkeit, der nach dem Krieg folgende Konsensversuch ein Fehler. Bis heute fehlt den Politikern des Westens der Mut, sich das einzugestehen. Eine kritische Analyse wollen sie nicht eingehen, fürchten wohl eine Destabilisierung der westlichen Welt. Deshalb braucht auch diese das Horror-Bild Hitlers.
Und schließlich zu Deutschland: Wie kann man die hysterische Geißelung erklären, die seit einiger Zeit die deutsche Politik und Publizistik bewegt? Die Alliierten waren es, die den Deutschen eine kritische Analyse der Vergangenheit verordneten. Und sie hatten dazu ihre guten Gründe. Aber auch die Sicht der Alliierten muss man einer kritischen Analyse unterziehen dürfen. Und dem ausländischen Beobachter bleiben die tiefen psychologischen Gründe verschlossen, warum die Deutschen bis heute mit unbeschreiblicher Selbstgeißelung das eigene Versagen, die unermesslichen Greuel ihrer Vorfahren beurteilen. Eine Relativierung der nazistischen Verbrechen darf es natürlich nicht geben.
Aber der sachliche und kritische Blick auf die Vergangenheit sollte keinem Druck von außen unterliegen, und schon gar nicht Emotionen von außen, wenngleich diese verständlich sein dürften. Insgesamt scheint die deutsche Aufarbeitung der eigenen Geschichte längst nicht abgeschlossen. Das ist keine gute Erkenntnis für unsere deutschen Nachbarn. Die heutige hysterische Selbstgeißelung kann sich schnell – übrigens wie jede Hysterie – in ihr Gegenteil verkehren.
Und als Folge dieses dreifachen Versagens entstand eine absurde Situation. Scheinbar leben wir immer noch unmittelbar nach dem großen Krieg. Die Verbreitung nazistischen Gedankenguts und der „Auschwitz-Lüge“ sowie das Tragen nazistischer Symbole stehen in den meisten europäischen Staaten unter Strafe. Die Ideologie ist längst tot, hat ihre einstige Attraktivität verloren, auch für die Mehrzahl der Deutschen.
Deutschland ist inzwischen keine Großmacht mehr, und ein neuerlicher deutscher Griff nach der Weltmacht ist absurd. Dafür ist die Welt, in der wir mit den westlichen Alliierten und Deutschland leben, besessen von einer einzigen Idee: Wie ein geistig kranker Mensch ist sie beherrscht von einer nicht existierenden Gefahr. Das raubt ihr Kraft und überdeckt tatsächlich existierende Gefahren.
Prager Zeitung 30. September 2004