Die Folgen des Unrechts mildern
Demokratische Staaten haben unter anderem das Problem, daß es ihnen zwar gelingt, Kriege gegen unterschiedliche Diktaturen zu gewinnen, die zynisch mit ihrer scheinbaren Schwäche kalkulieren, daß sie in der Schaffung eines dauerhaften Friedens jedoch meist bei weitem nicht so erfolgreich sind. In gewisser Weise handelt es sich dabei um das Problem des Konfliktes zwischen Idealismus und Pragmatismus. Am bisher letzten Weltkrieg läßt sich diese These gut demonstrieren. Dieser Krieg war den westlichen Demokratien vom verbrecherischen Naziregime aufgezwungen worden. Diese Tatsache sowie die Verbrechen, die die Nazis im Verlauf dieses Krieges verübt haben, haben dazu beigetragen, daß er als ein heiliges Anliegen, als ein Kampf um Werte verstanden wurde, der natürlich mit der Bestrafung jener enden mußte, die gegen diese Werte verstoßen haben.
Das ist jedoch nur eine Seite des Problems. Auf der anderen Seite ist jeder Krieg immer ein Ergebnis des Versagens der Mechanismen des friedlichen zwischenstaatlichen Ausgleiches von Konflikten und somit die Folge der Mängel eines Friedenssystems. Daraus folgt, daß der Zweck eines Krieges in erster Linie in der Errichtung eines besseren, verläßlicheren und also auch gerechteren Friedenssystems bestehen muß. Daher sollte auch die Bestrafung der Schuldigen nur im Rahmen der Herstellung eines gerechteren Friedenssystems erfolgen. Das wiederum bedeutet, daß der Bestrafung bestimmte Grenzen gezogen sind.
Zudem ist zu berücksichtigen, daß der moderne Massenkrieg ohne Unterschied Schuldige und Unschuldige vernichtet. Es ist praktisch unmöglich zu verhindern, daß sich auch die, deren Sache gerecht ist, hie und da, ob sie wollen oder nicht, der brutalen Methoden des Gegners bedienen.
Der Pragmatismus gebietet es ferner, im Kriegsfall Bündnisse zu schließen, was weitere Probleme nach sich zieht. Infolge der Fehler, die die demokratischen Staaten vor dem Krieg begangen haben, sowie dem Zwang der Umstände gehorchend, mußten sie sich mit einer rückständigen orientalischen Despotie verbünden, die eine aus Europa entliehene, exzentrische und utopische Ideologie in ein wenig modifizierter Form zu ihrer Staatsreligion erhoben hatte. Auch dieser Staat wurde von Hitler hinterrücks angegriffen, hatte einen Löwenanteil am Sieg über ihn und beeinflußte daher wesentlich den Friedensschluß.
Dies hat dazu geführt, daß der Krieg in einen Konflikt überging, der fast ein halbes Jahrhundert lang dauerte und immer wieder in einen neuen Krieg umzuschlagen drohte.
Die Unvollkommenheit, das Brüchige in der Welt, in der wir jetzt leben, ist eine Folge dieser Entwicklung. Es läßt sich daraus der Schluß ableiten, daß sich Zeiten unmittelbar nach einem großen Krieg für die Herstellung eines dauernden und gerechten Frieden nicht eignen. Daraus aber folgt wiederum, daß das, was in einer solchen Zeit vereinbart wird, sich einer späteren kritischen Revision nicht verschließen darf. Im Falle des Zweiten Weltkrieges geht es natürlich nicht um eine grundsätzliche Neubewertung, sondern um Teilkorrekturen in der Bewertung der Vergangenheit, die jedoch nicht unbedeutend sind. Die Geschichte ist barmherzig und bietet Zeit für solche Korrekturen. Aber diese Zeit ist nicht unbeschränkt.
Ich muß mit Bedauern feststellen, daß diese Korrekturen, wenigstens was Mitteleuropa betrifft, noch nicht erfolgt sind. Es sieht fast so aus, als ob wir immer noch in der Zeit unmittelbar nach Kriegsende lebten. Die Besiegten leisten Entschädigungen und geben Entschuldigungen ab, die jedoch keine wirkliche Versöhnung zur Folge haben. Unter diesen Umständen kann leicht übersehen werden, daß es auch auf der Seite der Sieger Probleme gibt; eines dieser Probleme ist die Vertreibung der Sudetendeutschen, die von der damaligen Tschechoslowakei initiiert, von der UdSSR heftig unterstützt und von den Westalliierten in Potsdam abgesegnet wurde. Sie wird häufig immer noch als eine historische Notwendigkeit erklärt, die jenseits von Gut und Böse steht.
Freilich lassen sich Vertreibung und Holocaust nicht auf dieselbe Ebene stellen: Der Holocaust war Genozid, die Vertreibung war eine brutale ethnische Säuberung. Aber ein größeres Unrecht kann ein kleineres nicht rechtfertigen.
Manchmal gewinnt man den Eindruck, als hätten deutsche Entschädigungszahlungen und deutsche Entschuldigungen die Spannungen eher verschärft als abgebaut. In der tschechischen Gesellschaft etwa hat der Haß in den letzten Jahren zugenommen, und es ist sogar zu befürchten, daß er sich auf den Stand der bürgerlichen Freiheiten in unserem Lande negativ auswirken wird.
Andererseits aber gibt es die gefährliche Illusion, zu glauben, daß alles Unrecht, das in der Vergangenheit geschehen ist, vollkommen wiedergutgemacht werden könnte. Deshalb halte ich es für wichtig, zu betonen: Die Korrekturen, von denen ich gesprochen habe, können nach so vielen Jahren nur in der "Milderung der Folgen einiger Unrechte" bestehen (so heißt es in den tschechischen Restitutionsgesetzen, die diesem Vorhaben leider sehr viel schuldig geblieben sind). Die Milderung der Folgen des Unrechts aber kann man auf dem Rechtsweg, auf dem Weg der völligen Entschädigung und der Eigentumsrückgabe kaum erreichen, sondern nur auf dem Wege politischer Vereinbarungen, die Gesten des guten Willens nach sich ziehen. Leider hat bisher keine tschechische Regierung den Mut gefunden, wirklich entgegenkommende Schritte in dieser Richtung zu setzen.
Die "Versöhnung 95" - eine gemeinsame Erklärung einer Gruppe tschechischer und sudetendeutscher Intellektueller, die vor neun Jahren entstanden ist - hatte Verhandlungen empfohlen. Sie fand leider auf beiden Seiten wenig Verständnis. Ich fürchte, daß der Rechtsfundamentalismus nicht zur Versöhnung, sondern nur zur Steigerung der Spannung führen wird. Es ist mir natürlich bewußt, daß ich hier nicht aus einer Position der Stärke argumentieren kann, denn erstens erfordern Verhandlungen Bereitschaft auf beiden Seiten, und zweitens haben sich die Tschechen in der Vergangenheit zu einer breitangelegten Eigentumsrückgabe entschlossen, die jedoch nur sie selbst betraf. Das war ein riesiger Fehler, der einen Konsens jetzt wesentlich erschwert.
Ich sagte bereits, daß die Zeit für praktische Korrekturen der Vergangenheit begrenzt ist. Ich fürchte sogar, daß sie schon abgelaufen ist. Im Angesicht der neuen globalen Gefahr, die vom militanten Islam und seinem Kriegszug gegen den Westen ausgeht, sind die westlichen Demokratien auf verhängnisvolle Weise uneinig. Ich bin überzeugt, daß ihre ungelösten, aus der Vergangenheit mitgeschleppten Probleme dabei eine zwar latente, aber wichtige Rolle spielen. Die Überwindung der noch unbewältigten Teile unserer Geschichte wird unter diesen Umständen immer schwerer.
Bohumil Dolezal dankte am Samstag mit dieser Rede für die Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen (BdV).
06.09.2004, F.A.Z.