Ein neuer Nationalheiliger
Mit dem Abstand einiger Tage wird deutlich, wie vielschichtig die Interpretation der von der Abgeordnetenkammer verabschiedeten Lex Beneš ist. Die Umstände des Zustandekommens des Gesetzes und insbesondere die Beweggründe seiner Initiatoren sind vielleicht noch wichtiger als die Bedeutung des Gefeierten selbst.
Einige Anmerkungen zur Form, nämlich dem Gesetz: Die Bewertung einer historischen Persönlichkeit (und die Anerkennung ihrer Verdienste) erfolgt in einer freien Gesellschaft in einer öffentlichen, kritischen Diskussion, die in einen Konsens mündet. Am Ende sollte sich stets die richtige Ansicht durchsetzen, zumindest ist das bestrebenswert. Natürlich geht dem ein anstrengender, langfristiger Prozess voraus, der viele Hindernisse zu nehmen hat. Leicht kann man dabei der Versuchung erliegen, dem Ganzen nachzuhelfen, indem man die Verdienste einfach durch ein Gesetz festlegt. Die Diskussion wird durch eine Abstimmung ersetzt und der Konsens trägt die Merkmale eines normativen Aktes (Verstoßen übrigens jene, die glauben, dass sich Beneš nicht um den Staat verdient gemacht hat, gegen das Gesetz?). Hätten die Tschechen schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ein eigenes Parlament gehabt, hätten sie zweifelsohne in einem Gesetz festgelegt, dass kein Zweifel an den umstrittenen Handschriften erlaubt sei (später zeigte sich, dass es Fälschungen waren). (Es geht um die Grünberger- und die Königshofer Handschrift.)
Dem Inhalt nach soll das Gesetz eine Ehrung sein. Sinn des Gesetzes ist es, ein Denkmal zu errichten, allerdings aus Worten. Mit den anderen Denkmälern hat man schlechte Erfahrungen gemacht. In periodischen Abständen werden sie aufgestellt und dann wieder abgerissen. Eines, das für die Ewigkeit gebaut war und gigantische Ausmaße hatte (das Stalin-Denkmal auf der Letná), wurde schon nach sechs Jahren gesprengt. Doch tut sich ein Problem auf: die Bewertung einer historisch bedeutenden Persönlichkeit lässt sich nur schwerlich in einen Fragebogen mit zwei Möglichkeiten pressen: er hat sich verdient gemacht – ja oder nein. Und Beneš hat sich zweifelsohne um die Entstehung der Tschechoslowakei verdient gemacht. Das haben übrigens auch viele andere, Beneš steht jedoch in erster Reihe. Aber er hat sich eben auch „verdient“ gemacht, dass die tschechische Gesellschaft nach 1945 problemlos in die stinkenden Gewässer des roten Zarenreiches schwamm. Er war schon vor dem Krieg überzeugt, dass das stalinistische Staatsmodell die müde westliche Demokratie befruchten könne und dass die Sowjetunion zuverlässiger die Freiheit und Unabhängigkeit der Tschechoslowakei garantieren könne als Frankreich und Großbritannien.
Nach dem Krieg initiierte er oder deckte mit seiner Autorität zahlreiche Maßnahmen, mit denen die politische Freiheit beschnitten und das freie Unternehmertum demontiert sowie massenhaft die Menschenrechte (durch die allgemeinen Repressionen gegen Deutsche und Ungarn) verletzt wurden. Sicher, nicht er verursachte den kommunistischen Putsch vom Februar 1948, aber er ebnete den Weg dorthin (und nach dem Putsch brachte er nicht die Kraft auf, zurückzutreten). Zweifelsohne ist es unsachlich, ihn mit Hitler oder Stalin vergleichen zu wollen. Allein schon deshalb, weil seine politische Laufbahn in völlig anderen Dimensionen verlief. Doch ist er zumindest eine, wie man heute sagt, „kontroverse“ Persönlichkeit. Deshalb kommen wir nun zur wesentlichsten Frage: Warum heften ihn die Politiker auf ihre Fahne? Schauen wir uns die Debatte in der Abgeordnetenkammer an, wird deutlich, dass es gar nicht um die historische Figur Beneš geht.
Vielmehr ist er „Symbol des tschechischen Staates und Symbol der tschechischen nationalen Interessen“. Er ist sogar eine Art Lakmuspapier: „Sag mir, was Du über Beneš denkst, und ich sage Dir, wo Dein wirklicher Platz auf der politischen Szene ist“. Und weil das Gesetz mit der Zielsetzung verabschiedet wurde, „einen bestimmten Damm für die einzelnen Gesellschaften zu errichten“, soll es Widerstand jenen „Stimmen in der Nachbarschaft“ bieten und den Staat gegen die Angriffe jener verteidigen, die sich Korrekturen der Nachkriegsordnung wünschen. Ein Abgeordneter sprach sogar davon, dass er glaubt, mit dem Gesetz „die Gefahr eines Durchbrechens der Restitutionsgrenzen“ zu reduzieren.
Eines wird deutlich: Ähnlich wie bei den mittelalterlichen Heiligenfiguren (dazu gehört auch der tschechische Nationalheilige Wenzel) hat sich die zeitgenössische Interpretation von den konkreten historischen Zusammenhängen gelöst und fristet ein Eigenleben. Die Verfechter des Gesetzes schreiben dem vor vielen Jahren Verstorbenen eine Art Wunderkraft zu, die er nicht haben kann. Was im 11. und 12. Jahrhundert Brauch und Sitte war, wirkt heute in einer rationalen Zeit wie eine unwürdige Parodie: Edvard Beneš, Herzog der böhmischen Länder, lass‘ weder uns noch die nach uns Kommenden vergehen!
Prager Zeitung 4. März 2004