Wenn ihr doch wenigstens geschwiegen hättet!

Die deutsch-tschechischen Beziehungen bleiben ihren Stereotypen verhaftet. Zuerst äußerte der deutsche Bundeskanzler vor tschechischen und deutschen Journalisten, die sogenannten Benes-Dekrete seien eine Reaktion auf den deutschen Überfall auf die Tschechoslowakei gewesen. Die Vertreibung sei zwar ein Unrecht gewesen, aber ihre Ursachen seien in Deutschland zu suchen. Dabei bezog er sich auf die deutsch-tschechische Deklaration von 1997, in der es heißt: "Beide Seiten sind sich zugleich bewußt, daß der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert, wobei Ursache und Wirkung in der Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden dürfen." Schröder ist dem offiziellen tschechischen Standpunkt so weit entgegengekommen wie noch kein deutscher Politiker vor ihm.

Dann billigte die Abgeordnetenkammer des tschechischen Parlaments in erster Lesung eine Gesetzesvorlage, die aus einem einzigen Satz besteht: "Edvard Benes hat sich um den Staat verdient gemacht." Ein sozialdemokratischer Abgeordneter argumentierte, die Tschechen müßten ihre nationalen Interessen verteidigen und dürften sich nicht Ansichten aus München aufzwingen lassen.

Schließlich kommentierte eine deutsche Zeitung, die Tschechen bräuchten Zeit, um sich mit den Menschenrechtsverletzungen, die den Sudetendeutschen zugefügt worden waren, auseinanderzusetzen. Ministerpräsident Spidla wisse über die Meinungen im Volke Bescheid und müsse vorsichtig verfahren. Man möge ihm die Gelegenheit geben, an seinem Versöhnungskurs festzuhalten. Radikale Forderungen der deutschen Unionspolitiker seien daher kontraproduktiv.

Doch man sollte sich nicht unnötig Illusionen machen. Der offizielle tschechische Standpunkt hat sich seit Mitte der neunziger Jahre um keinen Millimeter bewegt. Er besagt, daß zwischen der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei und der Vertreibung der Sudetendeutschen eine Ursache-Wirkung-Beziehung bestehe. Die Vertreibung sei demnach eine geschichtliche Notwendigkeit gewesen - wir Tschechen hätten keine andere Möglichkeit gehabt. Unannehmbar sei die Vertreibung "vom heutigen Standpunkt aus". Das heißt: Sie war damals annehmbar.

Der Satz, man dürfe die Geschichte nicht umschreiben, heißt ins Tschechische übersetzt: Jeder Versuch, die Folgen des Unrechts zu mildern, ist von vornherein ausgeschlossen. Die in Deutschland begrüßte Erklärung des tschechischen Präsidenten Klaus zum Jahrestag der deutschen Okkupation, die Stellungnahme der tschechischen Regierung zum Ergebnis des EU-Referendums und die Rede Spidlas in Österreich folgten streng dieser Linie.

Die Deutschen setzen bei den tschechischen Politikern eine ähnliche Pluralität der Meinungen voraus, wie sie in Deutschland herrscht. Das erinnert ein wenig an die optimistischen Annahmen über die Verteilung der Kräfte im russischen Politbüro in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. In Prag sollen auf der einen Seite die Nationalisten stehen, auf der anderen der Reformer Spidla, dem man es nicht noch schwerer machen dürfe. Die Folge ist, daß die Populisten immer frecher werden, während die, die in Wirklichkeit überhaupt nichts ändern wollen, sich damit herausreden, daß sie äußerst vorsichtig sein müßten. Der unvoreingenommene tschechische Beobachter aber schämt sich, daß die Deutschen mit den Tschechen wie mit einem gefährlichen Verrückten oder einem verwöhnten kleinen Kind umgehen.

Manche deutschen Politiker und Historiker haben sich die seltsame Theorie von Ursache und Wirkung ohne Vorbehalt angeeignet, der zufolge sich die Menschen mechanisch wie Billardbälle bewegen. Geschichte aber ist das Ergebnis der Entscheidungen von Menschen, die durchaus fähig sind, sich vom Zwang der "Ursachen" zu befreien. Daher sind sie auch für das, was sie getan haben, verantwortlich und unterliegen dem Urteil späterer Generationen. Geschichte verstehen heißt, über die Geschichte Gericht zu halten. Es ist seltsam und ein wenig beleidigend für uns Tschechen, wenn die Deutschen, die das in den vergangenen fünfzig Jahren hinsichtlich des Nationalsozialismus für sich selbst beherzigt haben, in unserem Fall einen pseudohistorischen Alibismus akzeptieren.

Diese scheinbar ritterliche Haltung gegenüber dem Schwachen hat auf die tschechische Gesellschaft eine verheerende Wirkung. Wir waren in der Vergangenheit durchaus fähig, uns aus eigener Kraft von manchen Vorurteilen des Nationalismus und des Antisemitismus zu befreien. In der tschechischen Gesellschaft geht ein unspektakulärer, aber beharrlicher Kampf um eine gerechte Auffassung der Geschichte vor sich. Es ist bedauerlich, daß sich in diesem Kampf deutsche Politiker, Intellektuelle und Journalisten faktisch auf die Seite derer stellen, die die Geschichte verfälschen, die Verantwortung leugnen und die Freiheit unterdrücken wollen. Ich will überhaupt nicht bezweifeln, daß die Deutschen diesen Fehler in guter Absicht machen. Sie dürfen sich dann jedoch nicht wundern, wenn ihnen ein Tscheche zuruft: Wenn ihr doch wenigstens geschwiegen hättet!

26.08.2003, F.A.Z. FREMDE FEDERN