Bauern und Schweine an einem Tisch

Es hat viel böses Blut gegeben, als der für seine unverblümte Art berüchtigte amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld lobend vom "neuen" und abfällig vom "alten" Europa sprach. Sehr schnell hat sich indes gezeigt, daß diese Vereinfachung der Wirklichkeit nicht standhielt. In einer Hinsicht hat Rumsfeld aber etwas Wahres gesagt: Die Europäer sind uneins - und das in einer existentiellen Frage.

Spätestens seit dem 11. September 2001 mußte allen klar sein: Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion ist nicht die erhoffte Epoche friedlichen Zusammenlebens aller Völker angebrochen. Die Epoche globaler Konflikte, die schon als abgeschlossen galt, hat nur eine neue, schwer bestimmbare Gestalt angenommen.

An erster Stelle steht dabei der internationale Terrorismus, der an Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit alles bisher Gekannte übersteigt. Hinzu kommt der islamische Fundamentalismus, eine schlichte Ideologie des Fanatismus, die Menschen hervorbringt, denen das Leben nichts bedeutet, weder das eigene noch das anderer. Und dann sind da noch die Massenvernichtungswaffen, nicht nukleare, sondern biologische und chemische, die sich beängstigend leicht herstellen lassen. Wenn all dies zusammenkommt, entsteht eine tödliche Bedrohung, eine unsichtbare Armee, die zu allem bereit ist. Sie wird unterstützt von autokratischen Regimen rückständiger Länder, die diesen Kräften Zuflucht gewähren und sich selbst oder auf Umwegen an dem brutalen Feldzug beteiligen.

Eine lange Zeit sah es so aus, als zögen nur Israel und die Vereinigten Staaten diesen Haß auf sich. Doch das stimmte nicht: Denn der Terror richtet sich ganz allgemein gegen das Abendland. Eine Merkwürdigkeit fällt jedoch auf: Die Terroristen befinden sich in einem Zwiespalt. Zwar sind sie abgestoßen von der abendländischen Demokratie, doch sie fühlen sich zugleich angezogen von den Reichtümern des Westens.

Modernen Demokratien ist der Krieg nur das letzte Mittel zur Verteidigung. Die Entscheidung für militärische Gewalt ist aber auch deswegen schwierig, weil der richtige Zeitpunkt erkannt werden muß, von dem an solche Verteidigung statthaft oder notwendig ist. Das Münchener Abkommen hatte Frankreich und England dazu gebracht, auf die Verteidigung eines Landes - der Tschechoslowakei - zu verzichten, das zwar keine mustergültige Demokratie war, aber immerhin ein Teil ihrer Welt. Jegliches Appeasement bedeutet ein Stück Kapitulation. Dadurch gewinnt der Feind Raum, und es wird immer schwerer und schwieriger, ihn zu bekämpfen.

Der Politik des Appeasements hängen nun Frankreich, Deutschland und Rußland an - und vielleicht ist das sogar der Beginn einer künftigen Achse Paris-Berlin-Moskau. Das hätte dann möglicherweise zur Folge, daß die Nato bedeutungslos würde, in der Europäischen Union sich die Interessen Frankreichs und Deutschlands durchsetzten und anstelle Washingtons Moskau als strategischer Partner bevorzugt würde. Eine solche Entwicklung führte zu mehreren folgenreichen geopolitischen Beben. Die kleinen Staaten Mittel- und Südosteuropas von Estland über die Tschechische Republik bis Bulgarien würden verunsichert. Eine solche neue Achse gäbe historisch begründeten Ängsten neue Nahrung, daß - wie im vergangenen Jahrhundert schon einmal - über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten Politik gemacht würde. Auch daraus erklärt sich die Offenheit dieser Länder - Rumsfelds "neues" Europa - gegenüber den Vereinigten Staaten.

Der europäische Pazifismus leidet an zwei Illusionen, von denen der Glaube an die Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen im Vordergrund steht. Die UN sind janusgesichtig, was nicht verwundert, standen an ihrer Wiege doch Roosevelt und Stalin. Von der Idee her sind die Vereinten Nationen die Gemeinschaft demokratischer Staaten, die eine friedliche Welt schaffen. Im grauen Alltag kommen sie aber daher wie ein Gewerkschaftsdachverband von Staaten unterschiedlicher Art, der die Souveränität seiner einzelnen Mitglieder schützt.

Die UN befinden sich in dem Widerspruch, daß sie sich zwar auf die Durchsetzung der Menschenrechte verpflichtet haben, dazu aber nicht über die notwendigen Mittel und Instrumente verfügen. Dadurch wächst nur der Zynismus in den internationalen Beziehungen. Die Vereinten Nationen ähneln dem Orwellschen Gasthaus, in dem sich Bauern und Schweine an einen Tisch setzen und Probleme besprechen.

Ein anderes Problem der UN besteht darin, daß bestimmte Errungenschaften zu Rechten gemacht worden sind, etwa der Wohlstand. Die hochentwickelten Länder haben sich ihren Wohlstand mühsam erarbeitet - dürfen aber nicht stolz darauf sein, sondern sollen sich dafür schämen, daß es den anderen noch nicht gelungen ist, ähnlich erfolgreich zu sein. Ich will damit nicht sagen, die UN seien sinnlos. Es gibt aber Dinge, die ihr Vermögen übersteigen.

Nicht selten wird in der europäischen Öffentlichkeit mißverstanden, worum es im Irak-Konflikt geht. Es ist nicht das Ziel, das irakische Volk von seinem tyrannischen Herrscher zu befreien und ihm die Segnungen der Demokratie zu bringen. Ziel ist es, einen Herd des Terrorismus auszulöschen und damit die Sicherheit der westlichen Länder und ihrer Bürger zu gewährleisten. Der reiche Westen hat die Pflicht, den Armen der Welt zu helfen. Damit er das tun kann, muß er aber zuvor für sein eigenes Überleben sorgen.

23.02.2003, F.A.Z. Sonntagszeitung, Politik, GASTKOMMENTAR