Selbst-Gerechtigkeit
Die erste Teilzahlung zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern hat in den letzten zehn Tagen die Tschechische Republik erreicht. Aus diesem Geld werden zuerst die ehemaligen KZ-Häftlinge und die ältesten Betroffenen entschädigt. Es handelt sich um keine ungeheuere Geldsumme, und außerdem kann man ein verlorenes Leben oder eine ruinierte Gesundheit kaum mit Geld ersetzen. Und doch ist dies für die meisten Betroffenen eine große, wenn auch späte Genugtuung. Sie werden als Opfer anerkannt.
Es ist wahr, Deutschland ist in der letzten Zeit unter großen internationalen Druck geraten. Man könnte also auf die gewohnte stalinistisch-breschnewsche Weise behaupten, dass Deutschland "endlich genötigt worden ist", der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Diese Untertöne findet man schon lange in der tschechischen Presse. Man kann niemanden daran hindern, an solch böswilligen Erörterungen Vergnügen zu finden. Ein Mensch, der nicht im Hass auf seine Umgebung lebt, sollte jedoch fähig sein, die Sache auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Die Deutschen (und in nächster Zukunft auch die Österreicher) im produktiven Alter, die durch ihre Arbeit und aus ihren Steuern zur Entschädigung beitragen, haben überhaupt keine direkte Verantwortung für die Gräueltaten der Nazis. Auch die ältesten von ihnen waren bei Kriegsende noch Kinder. Dessen ungeachtet fühlt das heutige Deutschland die Verantwortung für die Verbrechen der Vorfahren, und das äußert sich in einer materiellen Satisfaktion für die Betroffenen und ihre Angehörigen.
Eine solche Haltung sollte freilich für jeden anständigen Menschen kein Grund zur Selbstzufriedenheit sein, sondern zur Selbstprüfung: Sind nicht auch wir Tschechen der "historischen Gerechtigkeit" etwas schuldig? Auch bei uns gab es nach dem Krieg Zwangsarbeitslager, die man am Anfang sogar nach deutschem Vorbild "Konzentrationslager" nannte. Nach den Dekreten "über die Arbeitspflicht" wurden in sie Männer, Frauen und oft sogar auch Kinder hineingetrieben. Der Hauptgrund war, dass sie sich vor dem Krieg zur deutschen Nationalität bekannt hatten. Zehntausende ungarischer Bauern aus der Slowakei wurden mit Gewalt zur Sklavenarbeit in die böhmischen Grenzgebiete verschleppt, und bei weitem nicht alle durften später zurückkehren. Das ist noch nicht alles: Die Bürger deutscher Nationalität wurden auf Grund monströser Rechtsnormen ihres gesamten Eigentums beraubt und um ihre Bürgerrechte gebracht. Dann wurden sie (mit Zustimmung der westlichen demokratischen Mächte!) aus ihrer Heimat vertrieben. Dass ihnen die in der CSSR lebenden Ungarn nicht folgen mussten, ist nicht unser Verdienst.
Die tschechischen politischen Parteien, die sich zur Demokratie bekennen, vor allem die bürgerlichen, die auf die Unantastbarkeit des Privateigentums und auf die Menschenrechte schwören, und unter ihnen wiederum die, die Wahrheit, Liebe und die Zivilgesellschaft anbeten, sollten ein Minimum an Anstand und politischer Courage aufbringen und endlich dem feigen und zynischen Populismus ein Ende machen. Anders könnten wir leicht in Isolation geraten.
Unsere nördlichen, die polnischen Nachbarn lösen jedenfalls derzeit mit voller Verantwortung ein vergleichbares Problem. Als die Deutschen 1941 den Angriff auf die UdSSR begonnen hatten, besetzten sie auch das Städtchen Jedwabne, das entsprechend dem deutsch-russischen Vertrag von 1939 den Russen zugefallen war. Die Polen aus Jedwabne organisierten dann unter den Fittichen der deutschen Militärs einen regelrechten Pogrom gegen die jüdischen Bewohner, die früher angeblich mit den Russen kollaboriert hatten. Sie haben sie auf die Straßen geschleift, einige von ihnen ertränkt, die Übrigen in einer Scheune verbrannt. Kommt uns Tschechen das nicht irgendwie bekannt vor? Jetzt wird der Fall wieder aufgegriffen und ist zum Gegenstand einer leidenschaftlichen Diskussion geworden: Auch in Polen gibt es viele, die eine solche Geschichte unter den Teppich kehren wollen, und es scheint, als hätten sie ihre Argumente von den Tschechen abgeschrieben: Man müsse unterscheiden, was die Ursache (die Kollaboration mit den Russen) und was die notwendige und logische Folge (das Morden) war. Oder: Es habe sich nicht um Tausende Tote gehandelt, sondern "nur" um 300!
Doch in Polen gibt es weitaus mehr Menschen, die wissen, was Verurteilung und Entschuldigung bedeuten: Sie sehen in denen, die für diese Gräueltaten verantwortlich waren, keine "Polen an sich", sondern schlicht und einfach Verbrecher. Von denen sagen sie sich öffentlich los. Und die zu Tode Gefolterten sind in den Augen dieser meisten Polen keine "Juden", sondern die ihrigen, die ihnen nahe Stehenden. Zu ihnen bekennen sie sich und verteidigen so die Ehre ihrer Nation.
Werden wir Tschechen auch einmal im Stande sein, dies zu leisten?
Die Welt 3. Juli 2001