Als 1945 die Russen kamen
Am 5. Mai, an dem sich der Maiaufstand gegen die Deutschen jährt, finden in Prag die üblichen Feierlichkeiten statt: Fahnen schmücken die offiziellen Gebäude, Kränze werden niedergelegt, Kriegsveteranen in Uniformen marschieren auf. Zu einer kritischen Analyse jener Ereignisse vor 60 Jahren fehlt die Lust. Das wundert nicht. Der Prager Aufstand war ja das Entré für die folgenden Jahre 1945 bis 1948, in denen die tschechischen bürgerlichen Parteien versuchten, eine Art Brückenfunktion zwischen Stalins Tyrannei und dem zivilisierten Westen einzunehmen, und zugleich mit den einheimischen Kommunisten kooperierten, obwohl die schon zu diesem Zeitpunkt ihre Feinde waren.
Weil nun eine kritische Aufarbeitung fehlt, wurden nach 1989 die abwegigsten Überlegungen angestellt: Die harten Anhänger eines Kampfes in den vorangegangenen Jahren sahen im Prager Aufstand den typischen Ausdruck eines wie immer sich historisch verspäteten tschechischen Widerstandes. Andere wiederum wollten unbedingt die Wlassow-Armee rehabilitieren – habe diese doch im letzten Augenblick ihre Waffen gegen die Deutschen gerichtet und auf diese Weise Prag geholfen.
Der erste Vorwurf ist offenbar ungerecht: Der nationalsozialistische Terror in Böhmen und Mähren war zwar nicht so grausam wie beispielsweise in Polen – das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er in diesem Teil von Europa etwas nie Dageweses darstellte. Darüber hinaus ging mit ihm eine äußerst intensive Demütigung der tschechischen Gesellschaft einher. Es war vorauszusehen, dass in dem Augenblick, als der deutsche Macht- und Rechtsapparat aus dem letzten Loch pfiff, es zu einem spontanen Ausbruch des Volkshasses kommen musste.
Der tschechische Nationalrat, das politische Führungsorgan des Maiaufstands, hätte allerdings etwas für die nationalen tschechischen Interessen tun können. Er hätte offen und eindeutig die amerikanischen Einheiten aufrufen sollen, dem kämpfenden Prag zu Hilfe zu kommen. Aber das wäre eben nur theoretisch möglich gewesen. Denn im Nationalrat hatte der kommunistische Funktionär Smrkovský das entscheidende Wort. Und zudem war der gesamte Widerstand gelähmt durch Benešs Kapitulationspolitik gegenüber Stalin. Der tschechische Nationalrat geriet zwischen zwei Mühlsteine und erfüllte weder seine Aufgabe, noch konnte er die künftigen Machthaber zufrieden stellen.
Andererseits muss bezweifelt werden, ob eine eindeutige Bitte an die Amerikaner geholfen hätte. Die befanden sich damals noch auf Konsenskurs gegenüber den Russen. Aber trotzdem hätte eine solche Bitte in einem Punkt später einiges klarer gemacht: Die russische Militäraktion zur Befreiung des Protektorats wäre in einem völlig anderen Licht erschienen. Schon damals wäre so offenkundig geworden, worauf es den Russen ankommt.
Und schließlich unsere russischen Befreier: Sie verteidigten ihr Vaterland gegen einen hinterhältigen Feind. Stalin versuchte in Zukunft sicherzugehen, dass er nicht wieder vor irgendeinem neuen Angriff steht. Dies tat er in traditioneller russischer Art und Weise: so viel wie möglich zu annektieren. Den Weg nach Europa öffnete ihm eine dreifache Indolenz: die Indolenz der Sieger des Ersten Weltkrieges, der Architekten der in vielerlei Hinsicht ungerechten Nachkriegsordnung in Europa, womit sie zu Hitlers politischem Aufstieg beitrugen. Die Indolenz Hitlers, die man nicht erläutern muss. Und die Indolenz des tschechischen nicht-kommunistischen Widerstandes und Präsident Benešs, die sich auf Stalin stützten, wie auf ein Bollwerk gegen die deutsche Gefahr. So sind wir in den Jahren 1945 bis 1948 in die Position einer russischen Kolonie geraten. Die Mehrheit der tschechischen Gesellschaft kam jedoch erst zu dem Zeitpunkt zur dieser Erkenntnis, als in Prag – im August 1968 – wieder die russischen Panzer durch die Stadt rollten. Und das war schon spät genug.
Die russischen Soldaten verteidigten ihr Vaterland vor einem Feind, der es vernichten wollte. In diesem Sinne war ihr Kampf gerecht. Aber sie kamen nicht, um uns zu befreien. Sie kamen, um uns zu verschlingen. Auch wenn viele von ihnen, da sie von der bolschewistischen Ideologie betäubt waren, davon nichts wussten.
Prager Zeitung Mai 2001