Eine Niederlage für Tschechiens Demokratie

Prag - Ich sollte eigentlich stolz sein: Meine Heimat ist wieder einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der europäischen Presse. Das Ergebnis ist leider oft nur ein kitschiges Farbendruckbild, das den Kampf der Wahrheit und der Liebe mit der Arroganz der politischen Macht darstellt. Im Interesse aller Beteiligten sollte eigentlich sein, die Comédie larmoyante über die Vergewaltigung der Medienfreiheit in Tschechien sachlicher zu beschreiben.Zuerst etwas über die Protagonisten des Stücks: In der ersten Reihe stehen die ODS und die Sozialdemokraten. Beide sind seit langem unzufrieden, dass ihnen das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu wenig Aufmerksamkeit widmet. Diese Verstimmung führte in beiden Parteien zu einem unsittlichen Plan. Sie wollten das Fernsehen unter eigene Kontrolle bringen. Schon vor einem Jahr haben sie in den formell politisch unabhängigen Aufsichtsrat des tschechischen Fernsehens ihre treuen Anhänger installiert.Ein weiterer Mitspieler ist das tschechische Fernsehen im Allgemeinen, die Nachrichtenredaktion im Besonderen - eine Abteilung, die auf mögliche Verletzungen der Meinungsfreiheit empfindlich reagiert. Zugleich ist sie aber auch ein in sich geschlossenes und offenbar schwer beherrschbares Kollektiv, das sich gegen jede Beeinflussung und Leitung von oben sträubt. Ein anderer Akteur lässt sich unter Künstlern und Publizisten ausmachen, genauer unter Künstlern, die besondere Interessen im Fernsehen haben.Schließlich sollte man nicht die politischen Gegner der gegenwärtigen Regierung vergessen: den Präsidenten Václav Havel und die "Vierer-Koalition" (ein Parteiblock, der der ODS und CSSD entgegensteht), um nur die wichtigsten Beteiligten zu nennen. Sie sehnen sich nach einer Revanche für die Niederlagen, die ihnen Václav Klaus bei seinem Wahlsieg 1992 und seinem Kampf um die Macht im Herbst 1997 bereitet hat. Schließlich darf man die tschechische Öffentlichkeit nicht vergessen. Sie ist unzufrieden, dass sich die Versprechungen der Politiker, bald im Wohlstand zu leben, nicht so erfüllt hat, wie sie es sich erhoffte: Weder die Herrschaft der Wahrheit und der Liebe unter Havel noch die der "unsichtbaren Hand" des Marktes unter Klaus hat sie befriedigt.In dieser Lage reichte nur ein Anlass, um die Atmosphäre aufzuladen: die blitzartige und recht verdächtige Absetzung des alten Generaldirektors des Fernsehens durch einen neuen, so umstrittenen wie unbeugsamen. Zunächst machten die Nachrichtenredakteure Front. Sie besetzten das zentrale Studio und brachten eigene Nachrichtensendungen heraus. Diese Sendungen wurden wiederum von der Leitung des Fernsehens gestört. Die Lage eskalierte, als Václav Havel, die "Vierer-Koalition" und zahlreiche Intellektuelle die Redakteure öffentlich unterstützten. Nun kam es zu Protesten auf den Straßen. Mehr als das: Prag erlebte die größte Massendemonstrationen seit 1989.Unter diesem Eindruck rief das Abgeordnetenhaus den eben ernannten Direktor zum Rücktritt auf und drohte, ihn mit Hilfe des Aufsichtsrates des Rundfunks zu entlassen, falls er nicht freiwillig gehe. Der Aufsichtsrat aber ist ein unabhängiges Gremium und weigerte sich bislang, Weisungen entgegenzunehmen. Nun muss das Abgeordnetenhaus entscheiden: Es wird wohl den Aufsichtsrat abberufen. Dann gibt es jedoch niemanden mehr, der den Direktor des Rundfunks seines Amtes entheben kann. Daher wollen die Abgeordneten eine Gesetzesnovelle beschließen, die ihnen ermöglicht, für diesen Fall die Kompetenzen des Aufsichtsrates zu übernehmen. Eine seltsame Auffassung der Gesetzgebung!Was sind nun die Folgen dieses Streites? Die gute Lehre daraus ist, dass es Václav Klaus' ODS nicht gelungen ist, das öffentlich-rechtliche Fernsehen unter ihre Kontrolle zu bringen. Dagegen haben sich die Aufständischen unter dem Präsidenten zu sehr eingemischt. Ihre Unabhängigkeit ist nicht mehr gegeben. Der neue Fernsehdirektor - wie immer er auch heißen mag - muss damit rechnen, dass sich seine Mitarbeiter in der Redaktion sehr selbstbewusst verhalten werden. Die Abgeordneten wiederum, die für die Unabhängigkeit des Aufsichtsrates und des Fernsehdirektors kämpfen, setzen ihren Willen durch einen massiven politischen Druck auf die bestehenden Rundfunkinstitutionen durch. Die Unabhängigkeit des Fernsehens also wurde um den Preis der allgemeinen Missachtung der korrekten Mittel der politischen Auseinandersetzung erkämpft. Die tschechische Demokratie hat wieder einmal eine Niederlage erlitten.Parlament streitet um neues Mediengesetz Prag - Ungeachtet des Rücktritts von Generaldirektor Jirí Hodac am Donnerstag streiken die Prager Fernsehredakteure und demonstrieren die Prager Bürger weiter - wenn es auch am Donnerstagabend weniger waren als vorher. Dies zwang am Freitag das tschechische Parlament zur zweiten Sondersitzung innerhalb einer Woche.Die Abgeordneten wollten versuchen, die innenpolitisch gespannte Atmosphäre durch ein neues Mediengesetz zu entschärfen. Der Entwurf sieht die drastische Beschneidung der Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens vor. In den Aufsichtsräten beider Anstalten sollen künftig nur noch Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen und Organisationen sitzen. In der kontroversen Debatte des Parlaments, die bis in die späten Abendstunden dauern sollte, lehnte die Regierung zugleich alle Forderungen der konservativen Bürgerpartei (ODS) nach einer Privatisierung der Fernsehstation CT ab.ODS-Chef Václav Klaus, dessen Partei bis zuletzt hinter dem umstrittenen CT-Intendanten stand, warnte vor einem künftig überbordenden Gruppeneinfluss auf Hörfunk und Fernsehen. Er nannte den Gesetzentwurf einen "Sieg der Telekratie über die Demokratie". Allgemein wurde jedoch erwartet, dass das Mediengesetz die erforderliche Mehrheit finden würde. Mit ihm wäre auch der Weg frei, die von der Öffentlichkeit geforderte neue CT-Führung zu wählen.Auf landesweiten Demonstrationen hatten am Donnerstag wieder Zehntausende Tschechen ihrem Unmut über die Parteien Luft gemacht, die sie als die eigentlichen Verursacher der Krise bezeichneten.

De Welt, 13. Januar 2001