Schulden an Österreich
Diese Vorstellung wurde durch den Streit um Temelin in gewisser Weise gestört. Ich versuche aus allen Kräften, die Motive zu verstehen, die österreichische Politiker dazu führten, sich mit so unzuverlässigen und unberechenbaren Partnern wie den ökologischen Aktivisten zu verbünden (schon jetzt zahlt sich das für sie nicht mehr aus), sich in Massendemonstrationen von Schulkindern einzuschalten und öffentliche Proteste auf eine Weise zu subventionieren und zu unterstützen, die in der Vergangenheit auch in der kommunistischen "CSSR" geläufig war.
Es scheint mir, dass der Widerstand gegen die Atomenergie ein konstitutives Merkmal des österreichischen Heimatgefühls wurde, ein wenig ähnlich wie einst der Widerstand gegen das Monsterprojekt Bos-Nagymaros, der die ungarische Nation im Widerstand gegen den russischen Imperialismus und seine Kadar-Gefolgsleute vereinte.
Den Dialog mit Österreich versäumt
Ein zweiter Effekt war, dass sich nach der Revolution die Beziehungen zwischen Ungarn und der heutigen CSFR verschärften (es war eine Tragödie, dass die tschechische und die slowakische Öffentlichkeit zur Zeit, als über den Bau entschieden wurde, an der Angelegenheit ungefähr so viel teilnehmen durften wie am Bau der Wasserkraftwerke am Jenissej; und nach der kommunistischen Herrschaft haben wir endlich einen Bau geerbt, der sich nicht vollenden und auch nicht abreißen lässt). Dank der Zurückhaltung und dem Takt der ungarischen Politik entstanden keine schicksalhaften Schäden.
Der Konflikt mit Österreich ist allerdings für die Tschechen eine Gelegenheit, das eigene Gewissen zu befragen: 1990 hätten wir wissen sollen, was für ein politisch brisantes Erbe das Monstrum Temelin ist. Die Kommunisten planten AKW an der tschechoslowakisch-österreichischen Grenze mit bösartiger Verbissenheit, wahrscheinlich um das neutrale Österreich in den entsprechenden Grenzen zu halten. Dass die Österreicher östlichen (russischen) Technologien und östlicher (tschechischer) Schlamperei nicht vertrauen, ist verständlich. Alle tschechischen Regierungen nach 1990 versäumten die Gelegenheit zum offenen Dialog mit der österreichischen Seite. Das ist aber noch nicht das einzige Versagen. Die tschechische politische Vertretung schloss sich nach den österreichischen Wahlen zum Unterschied von anderen postkommunistischen mitteleuropäischen Staaten servil den problematischen und im wesentlichen feigen Sanktionen der Länder der EU und der USA gegen-über Österreich an, die dann gänzlich scheiterten. Und diese tschechische "Euro-Speichelleckerei" schadete den österreichischtschechischen Beziehungen beträchtlich.
Und das ist immer noch nicht alles: Auch zehn Jahre nach der Revolution fand die tschechische Regierung nicht die Höflichkeit, sich zur Verantwortung für die "ethnischen Säuberungen" nach dem Jahre 1945 und die widerlichen Massenverbrechen zu bekennen, die diese hervorriefen. Das alles in einer Situation, als Österreich - unter anderem auch unter tschechischem Druck - Zwangsarbeiter entschädigt. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber es ist auch notwendig, die Deutschen zu entschädigen (oder eigentlich Österreicher), die in der Tschechoslowakischen Republik zur Arbeit gezwungen wurden. Ich wundere mich nicht, dass diese Asymmetrie den Österreichern unverständlich ist (nicht nur der österreichischen Regierung, sondern auch der österreichischen Öffentlichkeit).
Österreich zeigte in letzter Zeit Bereitschaft, mit seinen postkommunistischen Nachbarn zusammenzuarbeiten. Das ist eine gute Nachricht. Zusammenarbeit von Nachbarn bedeutet immer, gemeinsame Probleme zu überwinden: sie ist anspruchsvoller, auch nützlicher als die Zusammenarbeit derer, die nichts gemeinsam haben. Es lässt sich sagen, dass die grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Österreich auch auf tschechischer Seite existiert. Tschechen und Österreicher sollten gemeinsam verhindern, dass sich in Österreich eine Situation wie in der Zwischenkriegszeit wiederholt.
Europäische Integration ist unstrittig nützlich
Das verlangt vor allem viel guten Willen und Selbstkritik auf der tschechischen Seite. Aber vielleicht sollten die Österreicher achtsamer sein, wenn es um die Einteilung der Nachbarn in gute (Slowaken, Ungarn) und schlechte (Slowenen, Tschechen) geht. Bei der Nutzung der Atomenergie gibt es zwischen uns keinen gewaltigen Unterschied und wenn es um die Vertreibung der Deutschen geht, sind daran vielleicht wirklich nur die Ungarn unschuldig.
Eine ähnliche Grenze wäre nur ein Relikt des unseligen Versaille-'schen Systems, das am Ende dazu führte, dass sich das ganze Gebiet zuerst Hitler und dann Stalin aneigneten. Die Europäische Integration ist unstrittig eine nützliche Sache: aber es gibt Gelegenheiten, in denen für alle Beteiligten gilt und gelten wird: das mitteleuropäische Hemd ist näher als der euroatlantische Rock.
Salzburger Nachrichten am 30. Dezember 2000 - Bereich: wochenende