Mehr als eine entgegenkommende Geste

Interessant ist, was die tschechische Presse veranlasste, den Auftritt von Bundeskanzler Gerhard Schröder an exponenter Stelle zu veröffentlichen. Folgende Argumente springen ins Auge: Deutschland wird keine territorialen Ansprüche an die Tschechische Republik stellen - dem ist allerdings so seit der Wiedervereinigung. Deutschland wird auch keine Eigentumsforderungen erheben - derartige Forderungen stellte Deutschland auch unter der Regierung Kohl nicht. Der Kanzler vertritt einen anderen Standpunkt als der Bund der Vertriebenen. Und die Schluss-folgerungen der Presse: Der Kanzler habe sich „von den Forderungen der Ausgesiedelten distanziert“, oder er habe sogar „alle Ansprüche der abgeschobenen Deutschen gegen Tschechien abgelehnt“.

Deutlich wird die Faszination von der „sudetendeutschen Gefahr“: Hinter unserer Grenze lauern ganze Horden Ausgesiedelter, die nur darauf warten, einen Teil Tschechiens zu besetzen und die Menschen dort ihres Eigentums zu berauben (mit anderen Worten, den Tschechen das zuzufügen, was diese vorher ihnen angetan hatten). Doch da ruft der oberste Häuptling der Deutschen: Stopp! Zurück! Und Tschechien kann wieder frei atmen. Allerdings misst diese dämonische Vorstellung dem Kanzler mehr Macht zu als er tatsächlich hat, dahinter verbirgt sich eine gehörige Portion schlechten Gewissens.

Was ist nun tatsächlich geschehen? Bundeskanzler Schröder hat als erster deutscher Kanzler überhaupt in Berlin am „Tag der Heimat“, also an der Jahresversammlung des Bundes der Vertriebenen, teilgenommen und dort gesprochen. Für einen sozialdemokratischen Spitzenpolitiker eine bis dahin nicht dagewesene entgegenkommende Geste. Schröder knüpft damit an eine Tradition an, die Antje Vollmer mit ihrer Teilnahme am Sudetendeutschen Tag begründet hat. Schröders Schritt muss jedoch viel mehr Gewicht beigemessen werden.

In seiner Rede hat er die Vertreibung nach dem Krieg unzweideutig verurteilt, bezeichnete diese als Verbrechen und Unrecht und stellte eine Parallele zu der Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo und den Vertreibungen in Ruanda her. In diesem Zusammenhang merkte der Kanzler auch an (was von der tschechischen Presse freudig zitiert wurde), dass die Vertriebenen Opfer der verbrecherischen Politik des Nationalsozialismus sind. Der Kanzler fügte allerdings noch hinzu, dass sie dies ohne eigene Schuld seien. Über diese Ergänzung ging die tschechische Presse jedoch hinweg.

Das sind die Tatsachen, der Kanzler hat die Forderungen der Sudetendeutschen nicht abgelehnt, er hat deutlich gemacht, dass die Bundesregierung gegen ihre Nachbarn keine Gebietsforderungen hat und dass sie die Eigentumsforderungen der Vertriebenen nicht unterstützen wird.

Einige Äußerungen des Kanzlers müssen allerdings mit Vorsicht aufgenommen werden: Sein Heimatbegriff ist abstrakt. Kaum jemand wird Heimat nur aus der Gegenwart definieren und als etwas, was durch den „Raum gemeinsamer Werte“ abgegrenzt ist. Heimat ist für den großen Teil der Menschen einfach das Land, in dem sie geboren wurden, ihr Leben lebten und das sie gern haben. Sich von dem traditionellen Verständnis der Heimat als einem ganz konkreten Ort zu befreien, ist eine Forderung, die wohl nur ausgefallene Intellektuelle nachvollziehen können.

Auch, so scheint es jedenfalls, misst der Kanzler den schamlosen Worten von Premier Zeman über die „erloschenen“ Dekrete mehr Gewicht bei, als tatsächlich gemeint ist. Für Zeman bedeutet „erloschen“ keine Distanz, keine Ablehnung, sondern vielmehr: Die Dekrete waren in Ordnung, heute werden wir sie allerdings nicht mehr anwenden. Wesentlich ist jedoch, dass der Kanzler erneut den Standpunkt seiner Regierung in der Frage der Vertreibung bestätigte: Die Bundesregierung verurteilt diese grundsätzlich (und das wird wohl jede deutsche Regierung tun), in keinem Fall wird man jedoch seine Rolle und Bedeutung ausspielen und die schwächeren Nachbarn unter Druck setzen. Zu Anstand und Gerechtigkeit kann niemand gezwungen werden. Der Kanzler weiß, das beste Beispiel ist das Vorbild (Deutschland müht sich schon ein halbes Jahrhundert mit der Aufarbeitung der nazistischen Vergangenheit) und nichts ist fruchtbarer als der Aufruf zum freien Handeln (die Vergangenheit der Nachbarn ist deren ureigenste Angelegenheit). Also das, was die Kommunisten in der Zeit der „Normalisierung“ nach 1968 als moralischen Terror bezeichneten.

Diese Politik ist im wesentlichen richtig, aber riskant. Sie setzt darauf, dass die Partner keine hoffnungslosen Dummköpfe oder paranoiden Angsthasen sind. Lehnt der Angesprochene es ab, darauf überhaupt zu reagieren, kann diese Politik scheitern. Der sozialdemokratischen Bundesregierung werden ihre politischen Gegner genau das vorwerfen.

Die tschechische Gesellschaft erhält eine einmalige Chance: Sie könnte sich in Ruhe und ohne große materielle Opfer mit den dunklen Seiten der Vergangenheit auseinandersetzen. Leider haben die tschechischen Politiker in dieser Frage über alle Parteigrenzen hinweg eine „Nationale Front“ gebildet und warten mit der Aufarbeitung der Vergangenheit auf denjenigen, der nach Schröder kommt. Eine Prog-nose sei gestattet: Der Nachfolger Schröders wird die Lehre aus dessen Fehlern ziehen und gewiss eine Politik mit Nachdruck betreiben. Doch das nutzt weder Europa noch Deutschland, und schon gar nicht Tschechien.

Prager Zeitung 14.9. 2000