Sehr geehrter Herr Grass!
Mit Interesse habe ich Ihren Aufruf gelesen, den Sie und Ihre Freunde vor kurzem veröffentlicht haben. Ihre Initiative ist mir nahe und sympathisch - vor allem, weil sie ein Ausdruck der Bereitschaft der freien und verantwortlichen Bürger sein soll, die Verantwortung für die Taten freiwillig auf sich zu nehmen, die auch in ihren Namen begangen worden sind, obwohl sie damals, als es geschah, meistens nur kleine Kinder oder noch nicht geboren waren.
Ich muss gestehen, dass ich seit einigen Jahren vor einem ähnlichen Problem stehe. Es handelt sich um die mehr als drei Millionen böhmischen Deutschen, die unmittelbar nach dem Kriegsende nach Deutschland "abgeschoben" wurden. Gewiss gibt es hier auch Unterschiede. Die Sudetendeutschen, die mit ihrer Lage in einem Staat unzufrieden waren, der sie nur als eine geduldete "Minderheit" betrachtete und mit dem sie infolgedessen nicht im Stande waren, sich eindeutig zu identifizieren, haben sich 1938 mehrheitlich für Hitler und das Dritte Reich ausgesprochen. Das ist zweifellos eine schwere politische Schuld, mit der sie sich noch auseinander setzen müssen. Ich bin jedoch Tscheche, und als solcher muss ich mich fragen: War das Grund genug, diese Leute um ihr Eigentum zu berauben, viele von ihnen zu misshandeln und sie anschließend ins verwüstete Deutschland zu vertreiben? Alle arbeitsfähigen Erwachsenen und sogar auch größere Kinder wurden eine Zeit vor dem "Abschub" zur Zwangsarbeit genötigt. Das alles geschah auf Grund des unmoralischen Prinzips, wonach die Schuld der Sudetendeutschen kollektiv vorausgesetzt worden ist und die Einzelnen ihre Unschuld vor den Verwaltungsorganen beweisen mussten.
Ich versuche ihre kritischen Bemerkungen zu ihren Mitbürgern und Institutionen mit unserer tschechischen Lage zu vergleichen. Es gibt viele Ähnlichkeiten. Sie schreiben, dass es peinlich ist, dass sich bisher nur ein Bruchteil der deutschen Firmen entschieden hat, sich an der Entschädigung zu beteiligen. Bei uns beschäftigt sich mit der Entschädigung der Sudetendeustchen fast niemand, nur einzelne Privatpersonen. Dabei ist es schon vorher klar, dass es sich nur um Entschädigung der am schwersten Betroffenen handeln und diese Entschädigung nur symbolisch sein kann.
Sie schreiben, dass man in Deutschland 55 Jahre nach dem Ende der Hitlerherrschaft über elementare Sachverhalte noch im Unklaren ist - die Lage bei uns ist ähnlich. Über das "sudetendeutsche Problem" ist die Öffentlichkeit kaum informiert, weil die Leute, wie es bei den unangenehmen Angelegenheiten üblich ist, darüber eigentlich nichts wissen wollen. Sie schreiben ferner, dass die Regelung der Entschädigung lange auf sich warten ließ und dass dies verstörend ist und alle deutschen Bürger angeht. Bei uns ist verstörend und geht alle tschechischen Bürger an, dass bisher keine verantwortliche tschechische Institution auch nur bereit ist, über das Leid der Sudetendeutschen nachzudenken.
Sie erklären, dass Deutschland zwar den Staat Israel und jüdische Opfer entschädigt habe, aber die nichtjüdischen Zwangsarbeiter nicht. Ebenso ignoriert man auf unserer Seite, dass die Kleinbauern aus dem Böhmerwald, Glasarbeiter aus Nordböhmen, Bergleute aus Brüx auch Opfer des Krieges sind - durch unsere Schuld!
Sie sagen auch, dass viele deutsche Familien unschuldig-schuldige Nutznießer der Arbeit der Zwangsarbeiter waren. Dasselbe gilt für die tschechischen Bauernfamilien, auf deren Gütern die sudetendeutschen Zwangsarbeiter eingesetzt worden sind. Auch hier gilt, dass eine große Zahl der Leute die Strapazen nicht überlebt hat und dass von den Überlebenden der größere Teil inzwischen gestorben ist. Auch mich kränkt die Tatsache, dass wir vorläufig nicht einmal den Mut fanden, uns zu unserer Verantwortlichkeit zu bekennen, während die Zeit für die Betroffenen abläuft.
Keine offizielle Person hat bei uns das ihnen zugefügte Unrecht Unrecht genannt und dafür um Vergebung gebeten. Die angebliche Entschuldigung des Präsidenten Havel ist nur eine Legende. Im Vergleich mit den Deutschen müssen wir also einiges nachholen. Ich bin mit Ihnen völlig einig auch darin, dass nicht nur Unternehmen, Regierungen und Verbände den überlebenden Opfern der bösen Politik durch eine Geste zu verstehen geben müssen, dass sie Kummer und Scham empfinden, dass sie etwas gutmachen wollen, sondern viele einzelne Menschen. Daher habe ich vor einiger Zeit öffentlich einen ähnlichen Vorschlag gemacht wie Sie. Ich rief zu einer Sammlung für die am schwersten betroffenen Sudetendeutschen auf. Der Nachhall war bisher zwar nicht besonders groß, aber damit muss man rechnen.
Ohne solche Initiativen wird es auf der Welt nicht besser werden. Ich wünsche Ihnen und Ihren Freunden viel Erfolg.
Die Welt, 24. Juli 2000