Nässende Wunde

Ein Jahr nach Erscheinen des "politisch-historischen Lesebuchs" unter dem Titel "Abgeschobene Geschichte" (Odsunuté dejiny) in Prag hat das Institutum Bohemicum der sudetendeutschen Ackermann-Gemeinde eine deutsche Übersetzung veröffentlicht. Die Dokumentation, zusammengestellt und kommentiert von den Prager Publizisten Petr Pithart und Petr Príhoda, zeichnet anhand ausgewählter Zeitungsartikel die Debatte über ein Thema nach, das an der Moldau nach dem Sturz des kommunistischen Regimes für so viel Aufregung sorgte wie kaum ein anderes: die Vertreibung ("Abschiebung") der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Idee, dem tschechischen und auch dem deutschen Leser ein Bild davon zu vermitteln, wie sich die tschechische Gesellschaft mit einem ihrer größten neuzeitlichen historischen Traumata, der gewaltsamen Aussiedlung der mehr als drei Millionen Menschen zählenden deutschen Bevölkerungsgruppe, auseinandersetzt, ist sehr erfreulich. Getrübt wird diese Freude jedoch dadurch, dass die Informationen, die der Band liefert, nicht immer präzise sind. Anscheinend vertrauten Pithart und Príhoda, die sich schon als Dissidenten mit der sudetendeutschen Problematik befasst hatten, nicht allzu sehr darauf, dass die von ihnen ausgewählten Debattenbeiträge selbst aussagekräftig genug sind. Ihre eigenen Betrachtungen und Kommentare nehmen mehr als ein Viertel der Publikation ein. Darüber hinaus ist die Artikelsammlung mit Anmerkungen versehen, die oft nicht nur erklärenden Charakter haben.

Petr Príhoda teilt in seinem Kommentar die Teilnehmer der Kontroverse in "Kommunisten und Nationalisten", "Pragmatiker" und "Moralisten" (Kritiker der Vertreibung) ein. Diese Einteilung ist nicht ganz präzise. Viele Kritiker der "Abschiebung" verurteilen sie nicht nur als moralisch verwerfliche, sondern auch als politisch zweifelhafte Aktion. "Die Kommunisten", "Nationalisten" und "Pragmatiker" stellen nur Varianten des tschechischen nationalen Sozialismus dar, der sich in der Tschechoslowakei zwischen 1945 und 1947 durchsetzte. Den extremistischen Stimmen, die sich in der Debatte lautstark Gehör verschafften, widmet das Buch allzu große Aufmerksamkeit. Der eigentliche Streit spielte sich zwischen "Moralisten" und "Pragmatikern" ab; letztere siegten in der Öffentlichkeit auf ganzer Linie.

Ein großer Unterschied besteht zwischen den Texten von Petr Príhoda, die zu den besten gehören, die in der Tschechischen Republik zur sudetendeutschen Problematik geschrieben wurden, und den Beiträgen von Petr Pithart. Pithart, von 1990 bis 1992 tschechischer Ministerpräsident, übernimmt in vielerlei Hinsicht die Argumentation der "Pragmatiker". In seinem Aufsatz zu den so genannten "Benes-Dekreten", kraft derer die Sudetendeutschen kollektiv enteignet und ihrer Bürgerrechte beraubt wurden, behauptet er beispielsweise, es sei nötig, die Gültigkeit dieser Dekrete aufrechtzuerhalten. Es existiere eine "einzige, unüberschreitbare Grenze, der 25. Februar 1948" (der Tag des kommunistischen Putsches in der CSR), die symbolisch zwei Regime voneinander trenne: "das undemokratische nach dem Februar und das demokratische vor dem Februar". Die Forderung, die Dekrete aufzuheben, die vor Februar 1948 verabschiedet wurden, ist für Pithart eine "absurde Forderung, die Geschichte zurückzudrehen, und nur der Versuch, sie noch einmal abzuspielen".

Tatsächlich wurden jedoch schon zwischen Kriegsende und dem Februar 1948 in der CSR die politischen Freiheiten und Menschenrechte erheblich eingeschränkt und so in vieler Hinsicht die Fundamente für das spätere kommunistische Regime gelegt. Dem 25. Februar wurde von der tschechischen Gesetzgebung nur deshalb eine schicksalhafte Bedeutung zugewiesen, um das, was wiedergutgemacht werden sollte - das kommunistische Unrecht an den Tschechen - von dem trennen zu können, woran die tschechischen Politiker nicht rühren wollten - das Unrecht an den Sudetendeutschen. In der Tschechischen Republik gibt es allerdings auch Stimmen, die für die Aufhebung der betreffenden Präsidentendekrete eintreten. Belege dafür bieten die Aktion "Versöhnung 95" oder die Petitionsinitiative von Emanuel Mandler im vergangenen Jahr.

Príhodas und Pitharts Lesebuch endet mit den Reaktionen auf die Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Deklaration im Jahre 1996. Der deutsch-tschechische Streit um die Vertreibung der Sudetendeutschen ging gleichwohl weiter, auch wenn er schon während der Verhandlungen über die Deklaration künstlich niedergehalten wurde. Die tschechische Gesellschaft ist noch weit von einem Konsens entfernt. Im tschechischen Bewusstsein bleibt die "Abschiebung" der Sudetendeutschen eine nässende Wunde.

27.09.1999, F.A.Z., Politische Bücher (Politik)