Ein ruhiges Klima zur aufrichtigen Reue
Im allgemeinen sind die tschechisch-deutschen Beziehungen gut: sie werden nur von Fall zu Fall durch atmosphärische Störungen belastet. Es handelt sich eben um die Beziehungen zwischen einem großen, reichen und deshalb auch starken Land und einem kleinen, armen und schwachen. Die Tschechen wissen nur zu gut, dass freundschaftliche Beziehungen mit einem starken und reichen Nachbarn recht nützlich sein können. Zugleich erweckt der Reichtum und die Stärke des Nachbarn aber einen gewissen Neid, Das, was als „der deutsche Komplex“ der Tschechen bezeichnet wird, existiert nur im Hintergrund und ist deshalb nicht sonderlich gefährlich.
Doch gibt es eine einzige empfindsame Stelle in den beiderseitigen Beziehungen, für die dies nicht gilt: die heikle – und noch immer offene – Frage der Vertreibung der Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg. Die tschechische Gesellschaft leidet an einem uneingestandenen schlechten Gewissen: Die Menschen ahnen, dass man so etwas nicht tun darf, und dass das, was man nicht tun darf, sich langfristig nicht lohnen kann. Daher gibt es ein nicht ganz rationales Angstgefühl: jetzt kommt jemand und nimmt uns auch das wenige, was uns noch nach der kommunistischen Periode geblieben ist. Da die deutsche Seite die ganze Angelegenheit nicht ohne weiteres übergehen kann (als etwas „von Anfang an Ungeschehenes“), und da sich die Betroffenen auf der deutschen Seite immer heftig zu Wort melden, entsteht in der beiderseitigen Beziehungen ein schwer überwindbares Hindernis.
Dabei ist die tschechische politische Szene leider noch wenig kultiviert. Die Politik der ehemaligen Rechtsregierung unter Ministerpräsident Václav Klaus war energisch in der Rhetorik. In der Begegnung mit bedenklichen Fragen versuchte sie den Befürchtungen der Öffentlichkeit entgegenzukommen, und zugleich den starken westlichen Partner nicht allzu böse zu machen. Ergebnis war ein unwürdiger Eiertanz zum Beispiel bei der Verabschiedung der deutsch-tschechischen Erklärung 1997.
Die Sozialdemokraten haben diese Schwäche ihres bürgerlichen Opponenten völlig ausgenützt. Ihr Standpunkt war immer nationalistisch, kompromisslos und hart. Man kann sogar sagen, dass die Linke dieselbe Politik zu machen schien wie die Rechte, nur viel konsequenter. Dahinter stand jedoch mehr kaltes Kalkül als politische Leidenschaft. Man muss den speziellen Charakter der tschechischen Sozialdemokratie berücksichtigen: Sie ist eine Sammelpartei für frustrierte Gegner der rücksichtslosen Machtpolitik der tschechischen Rechten nach 1992 – die Partei derer, die während des Privatisierungsfestmahls bei erlöschenden lichtern zu kurz gekommen sind: derer, die im Jahre 1968 den Reformkommunismus durchzusetzen versuchten, und nach 20 Jahren feststellen mussten, dass dieser Gedanke niemanden anzieht. Kurz gesagt, eine Gruppierung von frustrierten, ewig unzufriedenen und oft auch unfähigen Opponenten.
Dem Populismus der Partei ist zuzurechnen, dass sie stark nationalistisch orientiert ist. Besonders die ehemaligen eifrigen Kommunisten der Fünfziger Jahre haben ihr leider nicht nur geistiges Abenteuer in der Gegenwart durch die Rückkehr zum „tschechoslowakischen“ Chauvinismus der Jahre der ersten Nachkriegszeit gekrönt. Deswegen hat sich in den vergangenen Jahren in den deutsch-tschechischen Beziehungen eine seltsame Lage entwickelt: Im allgemeinen sind sie, wie gesagt, befriedigend und sachlich, nur in einer Schlinge dreht sich ein gefährlicher Wirbel. Die in Deutschland und Österreich in Sudetendeutschen Landsmannschaften organisierten Vertriebenen begreifen die tschechische Nichtbereitwilligkeit, sich mit dem Problem offen und aufrichtig auseinandersetzen, als einen zum Himmel schreienden Übermut triumphierender Gewalt. Das wiederum steigert die Angst der tschechischen Gesellschaft, und ihre Reaktionen werden noch hysterischer. Beide Seiten dieses seltsamen Streites sind jeweils schwach und unsicher. Und beide sehen in der anderen Seite einen starken und unbarmherzigen Feind.
Der Schlüssel zur Lösung dieses merkwürdigen circulus vitiosus liegt in der tschechischen Hand. In diesem Sinne ist es positiv, dass der neue deutsche Bundeskanzler und sein Außenminister wieder die Bereitschaft demonstriert haben, die Fragen der Vergangenheit nicht mit dem Eintritt der tschechischen Republik in die Europäische Gemeinschaft zu verbinden. Sie haben zwar nur das wiederholt, was auch die Regierung von Helmuth Kohl immer gesagt hat, aber die jetzige tschechische politische Repräsentation hält, wie es scheint, nur ihre linken Partner für glaubwürdig.
Ein ruhiges politisches Klima in den Beziehungen zwischen beiden Ländern würde Bedingungen dafür schaffen, dass man in der tschechischen Gesellschaft über problematische Seiten der Vergangenheit endlich sachlich und ohne Hysterie – das heißt zugleich auch kritisch – sprechen wird. Und dass es in eine zwar nicht demonstrative, aber um so aufrichtigere reue münden kann.
Die Welt 2. 11. 1998