Prag weicht vom Text der Erklärung ab
Daß die Prager Koalition kurz vor der Abstimmung über die tschechisch-deutsche Erklärung auf den von der Sozialdemokratie formulierten Eingangssatz eingegangen ist, wurde als ein vernünftiger Kompromiß interpretiert, welcher die Bedeutung der Deklaration entspreche. In der Tat handelt es sich aber um viel mehr. Der Satz erläutert einerseits die Erklärung, ändert andererseits indirekt – durch Berufung auf den Regierungsstandpunkt – ihre Textfassung. Die Haltung der Minister Ruml und Vodička, die gegen die Einleitung stimmten, sowie die Vorbehalte des Senatspräsidenten Pithart sind mehr als begreiflich.
Die Präambel stimmt mit dem Text des Bundestagsbeschlusses überhaupt nicht überein. Schon dies ist kein korrektes Verfahren. Noch wichtiger ist, dass der umstrittene Satz die Deklaration auslegt. Es heißt nämlich, die Erklärung „drückt den Willen beider Staaten aus, zu verhindern, dass die Vergangenheit eine Belastung der gemeinsamen europäischen Zukunft bildet“. Eine höchst einseitige Interpretation! Denn in der Erklärung haben sich zwar beide Seiten verpflichtet, „ihre Beziehungen auf die Zukunft auszurichten“, aber zugleich stellen sie fest, „dass der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert“. Im einleitenden Satz erklärt das Abgeordnetenhaus, er stimme der Erklärung zu „nach dem Anhören des Ministerpräsidenten und des Außenministers und aufgrund dieser Regierungsbegründung“. Die Regierungsbegründung wird also zu einer einseitigen Interpretation, die teilweise einer nachträglichen Textmodifizierung gleicht.
Im Motivenbericht heißt es: „Beide Seiten erkennen an, dass sie durch ihre Rechtsordnung gebunden bleiben.“ In der Erklärung wird aber gesagt, dass „jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt“. Es geht um konstatieren, nicht um Anerkennen. Nach dem Motivenbericht „konstatiert“ die Erklärung, „dass die eventuellen unterschiedlichen Ansichten der Vergangenheit angehören“. Soweit darüber keine beidseitige Übereinstimmung besteht, „werden sie in Zukunft nicht mehr auf internationaler und Regierungsebene diskutiert“. In der Erklärung sagt man jedoch: „Beide Seiten stimmen darin überein, dass das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört“ und „erklären deshalb, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belastet werden“. Der Motivenbericht fügt etwas hinzu, wovon in der Deklaration nicht die Rede ist.
Dem Motivenbericht nach wird „die Kausalität zwischen den Kriegsereignissen und der Aussiedlung der Deutschen nach dem Kriege bestätigt“. Die Erklärung nach ist sich die deutsche Seite „auch bewusst, dass die nationalsozialistische Gewaltpolitik gegenüber dem tschechischen Volk dazu beigetragen hat, den Boden für Flucht, Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu bereiten“. Dem Motivenbericht nach ist der Sinn der Ziffer 3 „weder die Akte der Zwangsaussiedlung (des Transfers) allein... noch die Rechtsnormen oder Akte, aufgrund derer es geschehen ist, zu werten“. Der Sinn der Bestimmung sei „ das bedauern über Leid und Unrecht, das unschuldigen Menschen zugefügt worden ist infolge der Vertreibung, zwangsweisen Aussiedlung, Enteignung und Ausbürgerung“. In der Erklärung heißt es aber: „Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung.“ Die Bedeutungsverschiebung ist unschwer zu erkennen: Auf den Kollektivschuld-Aspekt wird jetzt überhaupt nicht eingegangen.
Es wird gesagt, dass die Erklärung „nicht das Gesetz (Nr. 115/1946) als Ganzes verurteilt, es ist jedoch Bedauern auszusprechen, dass die darin benutzten Formulierungen seinen eventuellen (!!) Missbrauch ermöglicht hatten“. Wie aber kann man guten Gewissens an einem Gesetz festhalten, dessen Formulierungen seinen Missbrauch ermöglichen? Prag fehlt der Mut, sich zu dem Text zu bekennen, den es mit Bonn vereinbart hat. Leicht vereinfacht: Das Abgeordnetenhaus hat über einen anderen Text abgestimmt als der Bundestag. Kaum anzunehmen, dass das zu etwas Gutem führt. Jetzt hat der Senat das Wort.
Die Welt, 3. März 1997