Von der Eskalation zur Versöhnung
Die Beziehungen zwischen den Tschechen und den Deutschen in den böhmischen Ländern wurden in den vergangenen beiden Jahrhunderten schicksalhaft durch wachsende Spannung gekennzeichnet. Die Stimmen, die auf beiden Seiten zu Mäßigung und Versöhnung aufriefen, verstummten nach und nach. Es triumphierte dagegen die Kunst, den Gegner dazu zu bringen, sich von der schlechtesten Seite zu zeigen. Jede Besserung der politischen Situation der einen Gruppe bedeutete eine Verschlechterung der Lage der anderen. So wurde das Leben in diesem Winkel Europas langsam unerträglich. Die Deutschen in der neugegründeten Tschechoslowakei waren schlechter dran als die Tschechen vorher in der alten Monarchie. Die Tschechen im "Protektorat Böhmen und Mähren" waren schlechter dran als die Deutschen in der Ersten Republik. Dann griff die tschechische Seite zum Akt der Kollektivvergeltung, der alles übertraf, was sich bisher zwischen Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern abgespielt hatte.
Nach vierzig Jahren Kommunismus kehrt jetzt alles, wie es scheint, ins alte Gleis zurück. Das sudetendeutsche Problem als politisches Problem ist nicht mit der "Aussiedlung" der Deutschen zwischen 1945 und 1947 verschwunden, im Gegenteil, es gewinnt an Scharfheit und Intensität. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit: Rudolf Dreithaler, einer der wenigen Deutschen, die nicht nach dem Krieg weggehen mußten, verlor den Streit um die Rückgabe seines Elternhauses in Liberec (Reichenberg). Die Restitutionsgesetze diskriminieren offensichtlich die tschechischen Bürger deutscher Nationalität. Dreithaler ging allerdings direkt die Quelle aller Probleme zwischen den Tschechen und den Sudetendeutschen an, die Präsidentendekrete aus dem Jahr 1945. Aufgrund dieser Dekrete verloren die damaligen tschechoslowakischen Bürger deutscher und auch ungarischer Nationalität ihr gesamtes Gut und ihre Bürgerrechte.
Mit Dreithalers Klage wurde das Verfassungsgericht in eine Lage gebracht, in der es, wie absehbar war, nicht bestehen konnte. Das Gericht sollte irgendwie mit der Tatsache zurechtkommen, daß das beklagte Präsidentendekret Nummer 108 nicht mit der Verfassungsgarantie der Grundrechte und Freiheiten übereinstimmt. Man hatte voraussehen können, daß es die politischen Aspekte dieser Angelegenheit nicht unbeachtet lassen konnte. Das Verfassungsgericht tat dann aber sogar mehr, als es mußte: Es legitimierte das Dekret gänzlich und stellte damit allen Versuchen zur Versöhnung zwischen den Tschechen und den Sudetendeutschen eine schwierig zu überwindende Barriere in den Weg.
Durch eine gerichtliche Präzedenzentscheidung die Aufhebung der Präsidentendekrete zu erreichen ist unmöglich - auch wenn es wunderbar einfach wäre. Die Lösung einiger juristischer, mit der "Aussiedlung" der Deutschen zusammenhängender Probleme ist nur aufgrund einer breiten politischen Vereinbarung zwischen den Tschechen und den Sudetendeutschen möglich. Von der Eskalation zur Versöhnung gelangt man nur über Verhandlungen zwischen der tschechischen Politik und der politischen Repräsentation der Sudetendeutschen, und zwar über alle Fragen.
Die Möglichkeiten der Wiedergutmachung der vergangenen Ereignisse werden aber durch den großen Zeitabstand begrenzt, der inzwischen besteht. Nüchtern gesehen, kann man nur "einige Folgen des Unrechts vermindern". Das ist übrigens auch der Weg, den der tschechische Gesetzgeber in der Bemühung um die Wiedergutmachung der kommunistischen Verbrechen gewählt hat.
Bei der Respektierung dieses Grundsatzes ist es vorstellbar, daß die Tschechen und die Sudetendeutschen sich auf eine gemeinsame Bewertung der Vergangenheit und auf die Rückkehr derjenigen Vertriebenen einigen, die dafür Interesse zeigen. Es ist eine Lösung vorstellbar, die auf die Zukunft orientiert ist: auf die Schaffung günstiger Bedingungen für die Versöhnung und ein freundschaftliches Zusammenleben der Tschechen mit jenen ihrer Landsleute, die sich für die Rückkehr entscheiden, und für die Versöhnung und eine gute Zusammenarbeit mit jenen, die nicht zurückkehren wollen. Es ist schließlich denkbar, daß man in den strittigsten Fragen (wie etwa der Gültigkeit der Präsidentendekrete) eine für beide Seiten annehmbare Lösung findet. Das alles ist freilich nur unter einer Bedingung möglich: daß sich die tschechischen Politiker entschließen, mit ihren sudetendeutschen Partnern zu verhandeln.
23.03.1995, F.A.Z., Zeitgeschehen (Politik), FREMDE FEDERN