Das Harte unterm Samt
Fünf Jahre nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in der CSSR empfiehlt sich eine kritische Bilanz. Lassen wir das Positive beiseite, das die nachrevolutionären politischen Garnituren getan haben – sie haben sich schon selbst genug gelobt und ihre guten Absichten wollen wir überhaupt nicht in Frage stellen. Ich möchte statt dessen versuchen, den bisher zurückgelegten Weg nüchtern zu bewerten.
Auf den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in der CSSR war niemand vorbereitet. Es existierte kein politisches Programm für diese Situation. Reale politische und wirtschaftliche Kräfte, auf die sich eine zweckorientierte Politik hätte stützen können, waren nicht vorhanden. Es gab nicht einmal einen Konsens über die grundlegenden Werte eines solchen Programms.
In dieser Situation übernahmen die ehemaligen Dissidenten Macht und Verantwortung. Die erste Welle der samtenen Revolution setzte sich in Bewegung. Ideologisch war sie einerseits der „Charta 77“ verpflichtet, andererseits den Bestrebungen um mehr kulturelle und schließlich politische Freiheit, die in den sechziger Jahren zugenommen hatten und von der russischen Intervention im Jahr 68 und der darauf folgenden „Normalisierung“ gestoppt wurden. Sie beruhte auf dem Ethos des unpolitischen Strebens nach der Vermenschlichung des Systems, auf wiederholten Dialogangeboten an das KP-Regime und auf der Hoffnung, dass diese unpolitischen Tätigkeiten am Ende in Politik münden könnten, wie schon einmal in den sechziger Jahren.
Es kam ganz anders. Wie ein Kartenhaus brach das Regime auf einmal und völlig zusammen. Die Dissidenten jedoch machten weiter wie bisher und wählten sich die geschlagenen Kommunisten als Partner, die sich unter dem Druck der Umstände zum Dialog bereit erklärten. Einmal an die Macht gelangt, schleppten sich die Dissidenten mit einer Leiche ab. Denn die kommunistische Ideologie zog niemanden mehr an, auch nicht in ihrer „reformistischen“ Version aus dem Jahr 1968. Die Ideologie der Dissidenten wiederum, mit ihrer bis ins Religiöse überhöhten Auffassung der Menschenrechte und ihrer pseudosozialistischen Gesellschaftsutopie, verlor rasch an Attraktivität.
Die Protagonisten der nachrevolutionären Entwicklung, vor allem Václav Havel, waren davon überzeugt, dass es ein Vorteil sei, in der Politik am Nullpunkt anzufangen. Ihrer Ansicht nach bot sich dadurch die einmalige Chance, Fehlentwicklungen der westlichen Demokratie zu vermeiden und neue Antworten auf ihre Grundfragen zu geben – eine auffällige Parallele zu Lenins alter These, nach der Russland, das schwächste Glied der Kette imperialistischer Länder, die größten Chancen habe, das gerechteste aller Gesellschaftssysteme zu verwirklichen. Das verführte vor allem in der Außenpolitik zu Schritten, die uns in den Augen der westlichen Ländern einigermaßen kompromittierten.
Es war kein Wunder, dass sich die Bürger bei den Wahlen 1992 gegen die Politiker der Dissidentengeneration aussprachen. Mit den Wahlen im Sommer 1992 begann die zweite Welle der samtenen Revolution. Die neue politische Führung kam mit einer völlig anderen Ideologie: sie verkündete die Rückkehr zu den traditionellen, bewährten Methoden und Werten der westlichen Demokratie und der Marktwirtschaft. Nun stand die wirtschaftliche Transformation im Vordergrund, die von einer politischen Transformation begleitet wurde.
Während die Dissidenten eine neue, gerechte, auf Volkseinheit gegründete Gesellschaft zu bilden versuchten, ging es nun um die Schaffung eines „normalen“, also eines politisch stabilen, wirtschaftlich prosperierenden und auf Pluralität gegründeten Staates europäischen Zuschnitts. Zur Inspirationsquelle wurde der angelsächsische Konservativismus. Die führenden Vertreter der zweiten Welle, unter ihnen Václav Klaus und Vladimír Dlouhý, hatten schon vorher wirtschaftliche Schlüsselpositionen in der Regierung innegehabt, die die Dissidenten selbst nicht besetzen konnten. Sie setzten fort, was sie bereits begonnen hatten, ihre Politik enthielt nicht nur Elemente der Veränderung, sondern unübersehbar auch solche der Kontinuität. Das kommunistische Regime hatte zwar erfolgreich die Entwicklung so ziemlich aller human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen blockiert, aber es hatte die Ausbildung kompetenter Wirtschaftswissenschaftler internationalen Niveaus nicht verhindern können. Die zentrale Stellung, die die neue politische Führung der Wirtschaftsreform einräumte, war verständlich: sie folgte aus der zweifellos richtigen Erkenntnis, dass die freie Marktwirtschaft zu den grundlegenden Errungenschaften der europäischen Zivilisation zählt. Dazu kam allerdings die Vorstellung, dass die Einführung der freien Marktwirtschaft allein zu einer pluralistischen, offenen Gesellschaft westlicher Art führt. Und diese Vorstellung ist falsch. – Im Gegensatz zur politischen kann die wirtschaftliche Transformation nicht mit der totalen Zerstörung des alten Systems beginnen. Während des Übergangs muss die Kontinuität der grundlegenden Wirtschaftsfunktionen gewährleistet werden. Bei diesem äußerst komplizierten Umbau der Wirtschaft brauchte die neue politische Führung einen einflussreichen Verbündeten. Sie fand ihn, wie sich heute zeigt, in der postkommunistischen Wirtschaftslobby, also in jener Schicht, die in den vierzig Jahren des kommunistischen Systems entstanden war und die Spitzenmanager der staatlichen Großindustrie stellte.
Diese Lobby wird nicht nur durch institutionelle Bindungen aus der Vergangenheit zusammengehalten, die keine Wirtschaftsreform zur Gänze zerbrechen kann, ohne dabei die ganze nationale Wirtschaft zu zerstören, sondern auch durch ein Netz von persönlichen, durch jahrelange Zusammenarbeit geprägte Beziehungen. Sie wird durch gemeinsame Interessen geleitet und hegt, wie jede Zweckgemeinschaft, natürlich auch Machtambitionen. In der postrevolutionären Ära der „Wahrheit und Liebe“ hat sie ihre Positionen behaupten können, sich der unfähigen Protegés des verflossenen Regimes entledigt und neue Leute an sich gebunden.
An dieser Stelle ist es notwendig, mit einer falschen Vorstellung aufzuräumen. Erstens einmal ist es völlig sinnlos, vielleicht auch ungerecht, diese Leute pauschal als „Kommunisten“ zu bezeichnen. Sie selbst bekennen sich heute bestimmt nicht zur kommunistischen Ideologie (wenn sie es überhaupt je taten). Einige von ihnen glauben vielleicht auch an Gott und die meisten sind, wie das Gros des tschechischen Volkes, Pragmatiker, die sich metaphysischen Fragen gar nicht stellen sondern, sondern sich dem widmen, was sie für zweckmäßig und vorteilhaft halten.
Ebenso wenig ist es wahr, dass es sich bei ihnen – wie bei den kommunistischen Ideologen und Politikern – nur um unfähige Parasiten handelt. Sie sind die einzigen, die praktische Erfahrungen mit dem Management haben, wenn sie sie auch unter den deformierten Bedingungen des kommunistischen Wirtschaftssystems gesammelt haben. Die meisten von ihnen sind heute schlicht unersetzbar.
Unter dem System, das wir fast ein halbes Jahrhundert lang hatten, ist die ganze Gesellschaft degeneriert. Zweifellos ist dieser Prozess umkehrbar, wenn die Bedingungen dafür vorhanden sind. Die Gesundung der ganzen tschechischen Gesellschaft verlangt die Rückkehr zu den traditionellen Werten der europäischen, der christlichen Moral. Das gelingt nicht in ein paar Jahren, dazu braucht es mindestens eine Generation. Außerdem haben wir uns von diesen Werten spätestens in den Jahren 1945-1948, also noch vor der kommunistischen Machtergreifung, und im Grunde genommen freiwillig, verabschiedet. Wie schwierig die Rückkehr zu ihnen fällt, sieht man nicht zuletzt daran, wie instinktiv und erfolgreich sich die tschechische Gesellschaft dagegen wehrt, sich mit der Vertreibung der Sudetendeutschen auseinanderzusetzen.
Das Negative an der gegenwärtigen Situation ist, dass sich die heutige politische Garnitur, die sich von einer ideologisierten Ökonomie leiten lässt, mit der postkommunistischen Wirtschaftslobby die politische Macht teilt. Eine zielbewusste Politik müsste, ganz im Gegenteil, ein Gegengewicht schaffen, das die Wirtschaftslobby zwingen würde, sich verantwortungsvoll zu benehmen, zur inneren Selektion zu greifen, nachträglich dazuzulernen, was sie während des Kommunismus vernachlässigt hatte und ihre verwurzelten Gewohnheiten zu ändern.
Statt dessen stellen unsere heutigen politischen Repräsentanten dieser eigenartigen „Unternehmersphäre“ wichtige Positionen zur Verfügung in Bereichen, die in ihrer Bedeutung über den Wirtschaftsbereich hinausreichen und staatliche und nationale Lebensinteressen berühren. Es besteht, um es ganz deutlich zu sagen, die Gefahr eines schrittweisen Ausverkaufs des demokratischen Staates an unverantwortliche Elemente. Unsere politische Repräsentanz entledigt sich allmählich wichtiger politischer Instrumente und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie am Ende nur eine machtlose Marionette in den Händen jener politisierten Wirtschaftsmafia sein wird, in die sich die Wirtschaftslobby fortschreitend umwandeln wird, falls man ihr genügend Raum gewährt. Wenn wir Staatsstreich hören, stellen wir uns zumeist Panzer auf den Straßen vor, gestürzte Regierungen, auseinandergejagte Parlamente, Blut und Gewalt. Auch eine zweite Version ist vorstellbar: schleichende „Normalisierung“ in dem Sinne, wie wir sie schon in den siebziger Jahren hatten, langsame Rückkehr zu den gewohnten alten Verhältnissen. Das könnte verlaufen wie schon 1968/69; schrittweise, freiwillige, unangebrachte Kompromisse, schließlich Verzicht der verantwortlichen Politiker auf die Macht.
Ich bin nicht sicher, ob diese „Normalisierung“ nicht schon begonnen hat – unter dem Schleier der ökonomischen Transformation und der Rückkehr zu normalen, europäischen Verhältnissen. Ihre Vollendung würde die dritte und letzte Welle der samtenen Revolution bedeuten, nämlich die Restauration eines undemokratischen Regimes auf einer völlig neuen Ebene.
Die Presse 19. November 1994