Kardinal Marx, Entschuldigungen, Gewinsel und Nationalstolz

Im Rahmen der absonderlichen Symbiose der Feierlichkeiten zum Tag der tschechischen Staatlichkeit und des 75. Jahrestages der Unterzeichnung des Münchner Abkommens hat am 28. September der Münchner Kardinal Reinhold Marx im Wallfahrtsort Stará Boleslav bei Prag einen Gottesdienst gehalten. Es ist anzunehmen, dass der Erzbischof von München und Freising seine Ansprache nicht ohne Konsultationen mit tschechischen Partnern vorbereitet hat.

Der Kardinal erklärte u. a., dass die Versöhnung eine Grundvoraussetzung für ein freundschaftliches und friedliches Zusammenleben der Völker sei. „Diese Versöhnung ist mir ganz persönlich ein wichtiges Anliegen, gerade heute bei dieser Wallfahrt anlässlich der Feiern des Heiligen Wenzel, am 75. Jahrestag des Münchner Abkommens, das unzählige Menschen hier im Land und letztendlich in ganz Europa mit unbeschreiblichem Leid überzogen hat… Gewalt und Unrecht haben tiefe Wunden geschlagen und Bitterkeit hinterlassen. Das alles bedaure ich sehr, und es macht mich traurig und betroffen." Obwohl der Kardinal nicht ausdrücklich das Wort "Entschuldigung" benutzte, verstanden die tschechischen Medien diese Aussage (z. B. die überregionale Tageszeitung "Mladá fronta Dnes" im Titel) als Entschuldigung, worüber man sich schwerlich wundern kann. Der Kardinal erntete für diese Worte auch frenetischen Beifall.

Ich möchte überhaupt nicht die verständlichen und ehrsamen Beweggründe in Frage stellen, die den Kardinal zu dieser Erklärung veranlasst haben. Dennoch kann ich mich in diesem Kontext auch gewisser Zweifel nicht erwehren.

Zunächst zwei methodische Anmerkungen: Erstens wurde der Herr Kardinal im Jahr 1953 geboren, fünfzehn Jahre nach dem Münchner Abkommen. Er trägt dafür keinerlei Verantwortung. Sich für etwas zu entschuldigen, für das ich offensichtlich nicht kann, ist zwar nicht so schwer, aber auch nicht allzu produktiv. Jemand kann sich dann den Kopf zerbrechen: Warum tut er das eigentlich?

Zweitens stellte das Münchner Abkommen eine schwere Niederlage der tschechischen Politik dar. Zweifelsohne tragen die größte Verantwortung die Unterzeichner des indirekt als Auslöser des Zweiten Weltkriegs geltenden Abkommens, in dem die Abtretung der von Deutschen besiedelten Grenzgebiete der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich festgelegt wurde. Und dennoch war das Abkommen auch eine Niederlage der Politik Prags. Der tschechische Philosoph und Autor Emanuel Rádl (1873-1942)schrieb einst (in einem anderen, wenn auch ähnlichen Zusammenhang), ein wirklich stolzer Mensch (und demnach auch Volk) brüste sich nicht damit, wenn er einmal Prügel bezogen habe. Es ist bedauerlich, dass lediglich die Erinnerung an die gemeinsam erhaltene Prügel bei uns (Tschechen) den Anschein der nationalen Einheit erwecken kann. Und das ist umso bedauerlicher in einer Zeit, wo unsere Zukunft auf der Kippe steht und die Bürger einen Konsens suchen sollten, was mit ihr zu machen ist.

Für diejenigen, die sich im Gejammer über die Prügel ausleben, die ihnen gemeinsam zu erleben gegeben war, ist es freilich wichtig, wenn ihnen jemand sagt: Ihr Ärmsten, wie ihr gelitten habt! Leider muss er dies dann wieder und wieder tun, solange dem Betroffenen die weinerliche Stimmung nicht von allein vergeht - und lautstarkes Bedauern trägt nicht gerade dazu bei. Der Nebeneffekt besteht überdies darin, dass es das Objekt öffentlichen Mitleids von der Pflicht abbringt, darüber nachzudenken, ob es in seiner Geschichte nicht zufälligerweise etwas gibt, für das es verantwortlich ist und wofür es bislang vergessen hat, sich zu schämen (auf der Welt hat jedes Volk derartige weiße Flecken!). Angebracht wäre eine nationale Autotherapie. Wir sollten uns selbst mit dem Thema auseinandersetzen.

Die polnische Nationalhymne beginnt mit den Worten: Jeszcze Polska nie zginęła, Kiedy my vjemy (Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben). Das Lied entstand zwei Jahre nach der dritten Teilung Polens, also nach einer enormen nationalen Katastrophe. Und dabei ist sein Text ein Ausdruck des nationalen Stolzes, keine Spur von Gejammer findet sich in ihm. Es gehört sich, auch bei uns (in Tschechien) daran zu erinnern, wo so mancher mit dem Nationalstolz protzt. Und es gehört sich, daran in einer Zeit zu erinnern, in der das neue Regime nach 1989 in Trümmern liegt und es auf uns (Tschechen) ankommen wird, ob es gelingen wird, Freiheit und Demokratie zu erhalten. Das Gejammer über das Münchner Abkommen hilft uns nicht dabei.

Online-Ausgabe der gesellschaftspolitischen Prager Wochenzeitschrift "Reflex", reflex.cz, 1. Oktober 2013
Übersetzung Sylvia Janovská