Eine einstweilige Verfügung gegen mögliche Probleme
Ich habe in meinem Leben keinen seltsameren Text gelesen als den des Redakteurs Marek Kerles, der am 29. Mai von der überregionalen Prager Tageszeitung "Lidove noviny" veröffentlicht wurde (War die Abschiebung der Deutschen eine ethnische Säuberung?). Die Botschaft dieses Artikels war in ihm auf eine gewisse Weise verschleiert, so als ob sich Kerles für sie ein bisschen schämen würde. Falls ich ihn richtig verstanden habe, würde ich mich nicht wundern. Eigenartig ist bereits, dass der Journalist den Namen keines der beiden zitierten "Verteidiger der Abschiebung vor der Abschiebung" richtig schreibt (der eine hieß nicht Sněhule, sondern Stěhule, der andere nicht Kuffer, sondern Kuffner). Die Schlüsselfrage, die Herr Kerles stellte, lautete: „War die Abschiebung wirklich eine Strafe, oder ging es eher um eine Art einstweiliger Verfügung gegen die möglichen Probleme mit der deutschen Minderheit in der Zukunft? Diese Frage taucht in der Debatte über die Ursachen und Folgen der Aussiedlung nur sporadisch auf..." Diese Aussage entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Das Konzept einer „einstweiligen Verfügung gegen mögliche Probleme" lag bereits von Beginn an vor: So schrieb 1946 ein namhafter Publizist der nach Kriegsende bis 1948 erscheinenden, herausragenden Wochenzeitschrift "Dnešek" (Heute) von Ferdinand Peroutka: „Der Frieden unseres Staates, seine Stabilität und das Gefühl der Sicherheit sind von der Entfernung des Fremdkörpers aus dem Körper des Staates abhängig… Das Volk ist zur Erkenntnis gelangt, … dass es seinen unbestreitbaren, völlig eigenen Lebensraum haben muss. Es handelt sich um keine Prestigeangelegenheit. Es handelt sich um eine Lebensbedingung des Volkes." Und der nationale Sozialist und Volkswirt Jiří Hejda verkündete wiederum: „Wir wären es nicht wert, unseren Kindern in die Augen zu schauen, wenn wir die Chance verpassen würden, die uns das Schicksal in die Hand gegeben hat… Aber gerade, weil die vergangenen sechs Jahre die deutsche Mentalität in voller Nacktheit gezeigt haben, haben wir das völkerrechtlich anerkannte Recht erlangt, uns der Last zu entledigen, die uns jahrhundertelang behindert hat." Wie zu sehen ist, besteht der einzige Unterschied zur Vorstellung von Herrn Kerles darin, dass beide, sowohl der Publizist als auch der Politiker, das nachdrückliche Bedürfnis verspürten, die "praktischen Maßnahmen" auf eine moralische Legitimation zu stützen.
Die Projekte der Herren Stěhule und Kuffner waren kurz nach der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1919 politisch nicht durchsetzbar, u. a. auch deshalb, weil sie für moralisch untragbar erachtet wurden. Heute, wie Herr Kerles ein bisschen bedauernd schreibt, ist die "Vorstellung, dass die Angehörigen irgendeines Volkes präventiv ausgesiedelt werden sollten, damit sie in Zukunft nicht die gleichen Probleme wie in der Vergangenheit machen, so weit von allen proklamierten Idealen der EU entfernt, dass sie wohl nicht weiter entfernt sein kann." 1919 war eine Abschiebung noch von den Idealen entfernt, heute ist sie es bereits wieder, aber in der Zwischenzeit war sie möglich, weil Stalin diesbezüglich ein Mitspracherecht hatte.
Und letztlich zu „damit sie uns nicht die gleichen Probleme wie in der Vergangenheit machen": In "Lidove noviny" begleiteten sie den Artikel von Herrn Kerles mit einem emotional hübsch aufgeladenen Foto sudetendeutscher Kinder, wie sie hinter den Beinen ihrer Eltern hervorblickend Hitler begrüßen. Ich war 1945 wiederum ein rasender tschechischer Chauvinist. Fünf Jahre war ich damals alt. Und eine meiner Bekannten heulte hysterisch, als im März 1953 im Abstand einer Woche Stalin und der damalige tschechoslowakische Präsident Klement Gottwald den Löffel abgaben. Sie war neun. Seit dieser Zeit ist uns das beiden vergangen. Der Mensch kann sich ändern, sogar zum Besseren. Die Fürsorge der Tschechen, damit ihnen ihre deutschen Landsleute keine derartigen Probleme wie in der Vergangenheit bereiten, führte dazu, dass sie an die vierzig Jahre im stalinistischen Russland steckengeblieben sind. In der Zwischenzeit haben sich die Deutschen geändert. Wir Tschechen vorerst nicht allzu sehr, wie aus dem Artikel von Herrn Kerles (und nicht nur aus ihm) ersichtlich ist.
"Lidové noviny", 4. Juni 2013
Übersetzung Sylvia Janovská