Eine Brücke, die über den Eisernen Vorhang führt
Wenn wir davon ausgehen würden, was die Hauptredner in diesem Jahr beim Sudetendeutschen Tag in Augsburg gesagt haben, so verlief die ganze Veranstaltung im Zeichen der kürzlichen Ansprache des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Nečas im Bayerischen Landtag. Dabei hatte der Regierungschef dort eigentlich nichts gesagt, was auf tschechischer Seite nicht bereits zuvor erklungen wäre. Nečas suchte sich allerdings das Bessere aus, was sowohl angesichts der komplizierten innenpolitischen Situation in der Tschechischen Republik (die Regierung ist schwach, der Linkspopulist Miloš Zeman siegte bei der Präsidentschaftswahl zu Jahresbeginn) als auch der Tatsache, dass der Regierungschef selbst in der Vergangenheit in der Sache der einstigen deutschen Mitbürger mehr als nur zurückhaltend war, unerwartet kam. Ausschlaggebend war, dass Nečas sich Artikel III der Tschechisch-Deutschen Erklärung vom 21. Januar 1997 zu eigen machte und dessen Worte aufs Neue belebte: Wir bedauern, sagte der tschechische Premier, dass durch die nach Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Punkte sammelte Nečas im Übrigen vor den bayerischen Abgeordneten bereits mit der Anrede: "Sehr geehrte Landsleute und ehemalige Mitbürger!"
Nur schwer habe ich mich des Eindrucks entledigt, dass auf sudetendeutscher Seite die aus Prag kommenden Signale etwas überbewertet werden. Nichtsdestoweniger lässt sich nicht bestreiten, dass die Rede von Nečas eine Geste des Entgegenkommens war, weil auch die höchsten Vertreter der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SdL)freundlich und versöhnlich reagierten.
SdL-Sprecher Bernd Posselt verwies auf die historische Tradition des Landespatriotismus, der in den Ländern der böhmischen Krone jahrhundertelang Deutsche und Tschechen einte (in diesem Geist wandte sich Posselt übrigens bereits zu Beginn seiner Eröffnungsrede an die Anwesenden einschließlich der tschechischen Gäste mit den Worten "Liebe Landsleute beiderlei Zunge…"). Als Deutsche und Tschechen zur produktiven und konstruktiven Zusammenarbeit fähig waren, bemerkte der SdL-Repräsentant, war das immer zum beiderseitigen Vorteil. Doch wenn sich Deutsche und Tschechen in nationalistischen Konflikten verstrickten, bedeutete dies für beide Seiten Jahrzehnte des Unglücks. Es sei deshalb im existenziellen Interesse von Sudetendeutschen und Tschechen sowie auch der Deutschen und Tschechen allgemein, sich diese Lehre zu Herzen zu nehmen. Die Sudetendeutschen sollten nach Ansicht Posselts die Rolle eines Verbindungsgliedes zwischen Tschechien, Bayern und Deutschland übernehmen und eine "europäische Brückenfunktion" (im Rahmen des integrierten und sich vereinigenden Europas) erfüllen. Im ähnlichen Geist sprach auch der Vorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Franz Pany.
Die SdL steht offensichtlich vor einem gewissen Problem: Die Zahl derjenigen, die zumindest noch als Kinder die alte Heimat erlebt haben, sinkt schnell. Damit die Organisation auch für die Kinder und Enkel der Sudetendeutschen attraktiv bleibt, muss sie diese außer dem durch gemeinsame Erlebnisse und die Verteidigung ihrer Interessen gegebenen Zusammenhalt auch durch ein positives Programm verbinden, das gleichfalls auf die Menschen in ihrem Umfeld Einfluss nimmt. Zum Versuch der Belebung des "Landespatriotismus" muss gesagt werden, dass dieses Konzept irgendwann an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl von den Deutsch-Böhmen als auch den Tschechen verlassen wurde. Sie entschieden sich damals für die Auffassung von einen Volk, das auf der gemeinsamen Sprache und der gemeinsamen Geschichte basiert. Dieser Prozess verlief überall in ganz Europa und es ist abwegig, sich mit Erwägungen zu befassen, ob das gut oder schlecht war. Letztendlich haben wir Tschechen uns - aufgrund der Verdienste von Persönlichkeiten wie František Palacký, Karel Havlíček und T. G. Masaryk - während dieses Prozesses als nationale Gemeinschaft konstituiert, die sich von liberalen und demokratischen Prinzipien leiten lassen wollte. Wie uns das gelungen ist, kann in diesem oder jenem Punkt kritisiert werden, aber wir alle leben bis heute davon und haben ein Fundament für den weiteren Bau. Dadurch werden allerdings die Dinge, die sich vorher ereignet haben, nicht unter den Teppich gekehrt. Es ist nicht unangebracht, zu fragen: Hat uns die jahrhundertelange gemeinsame Heimat, die wir alle - Tschechen sowie Deutsche - gern hatten, nicht etwas Gemeinsames hinterlassen, worin wir uns nahe stehen und was die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1938-1945 nur überschatten, so dass uns das heute nicht einmal bewusst wird? Wie auch immer: Die Sudetendeutsche Landsmannschaft hat das Entgegenkommen des tschechischen Ministerpräsidenten mit Entgegenkommen beantwortet, so dass wir Tschechen ihr Angebot ernst nehmen und im gleichen Geist annehmen sollten.
Die Erneuerung des gegenseitigen Vertrauens zwischen Tschechen und Sudetendeutschen ist keine einfache Angelegenheit. Es gibt hier eine Menge offener und nicht zu Ende gesagter Dinge. Auch aus dem Treffen in Augsburg ging klar hervor, dass für die Sudetendeutschen nach wie vor die Dekrete des damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš (1884-1948)ein grundsätzliches Problem darstellen. D. h. die Dekrete, die die Grundlage für die Vertreibung bildeten. "Liebe tschechische Freunde, lasst uns gemeinsam diese Zombie begraben", forderte Bernd Posselt die tschechischen Gäste auf.
Das Problem der Dekrete ist ein großes Problem, jedoch kein unlösbares. Sicher lassen sich die Präsidialerlasse nicht so einfach vom Tisch fegen, wie sich das der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg vorstellte, als er in einer Wahlkampfdebatte mit seinem politischen Widersacher Miloš Zeman im Rahmen der Präsidentschaftswahlen erklärte, die Dekrete würden eigentlich nicht mehr gelten, weil sie im Widerspruch zur Charta der Grundrechte und -freiheiten stehen, die Bestandteil der tschechischen Verfassung ist.
Allgemein ist der Raum für den Ausgleich mit den Sudetendeutschen derart abgegrenzt, wie es Premier Necas in seiner Rede in München formuliert hat: "Wir müssen bekennen, dass wir nur sehr wenig von dem, was Schlechtes in der Geschichte geschehen ist, wieder gut machen können." Die Eigentumsverhältnisse der Vorkriegszeit können nicht wiederhergestellt werden. Es wäre aber möglich, die betreffenden Dekrete ex nunc mit dem Verweis aufzuheben, dass die auf ihrer Grundlage getätigten Rechtsakte gültig bleiben. Es würde sich lediglich um eine symbolische Geste handeln, die jedoch die klare tschechische Distanzierung von dem monströsen Rechtsnihilismus bedeuten würde, wie ihn die betreffenden Dekrete darstellen. Sicher, die Frage der „Milderung der Folgen einiger Unrechtstaten" (ein "glücklicher" Termin des tschechischen Rechts nach der politischen Wende von 1989) wird dadurch nicht komplett abgeschlossen. Aber es würde sich um einen weiteren entgegenkommenden Schritt handeln.
Sicher ist das „sudetendeutsche Problem" für die tschechische Gesellschaft in diesem Augenblick nicht das Problem Nummer eins. Aber auch so hat es großes Gewicht. Im Jahr 1989 sind wir recht günstig zu Freiheit und Demokratie gekommen. Und wie vor allem die letzten politischen Ereignisse gezeigt haben, haben wir während dieser 23 Jahre viel von beiden vergeudet. Jetzt sieht es so aus, dass wir uns Freiheit und Demokratie mühevoll wieder neu verdienen müssen. Eine wesentliche Errungenschaft der "sanften" Revolution vom November 1989 ist die Wiederherstellung unserer Zugehörigkeit zum demokratischen Westen. Leider gibt es bei uns in Tschechien viele Leute, die sich auf diese oder jene Weise bemühen - oft in Verbindung mit stupiden Phrasen von der "Souveränität" -, dass der physisch abgerissene Eiserne Vorhang, der uns von der gemeinsamen europäischen Vergangenheit und der europäischen und atlantischen Gegenwart trennte, vorerst zumindest "geistig" und virtuell weiter besteht. Und dass wir Tschechen zumindest virtuell noch immer mit einem Bein auf seiner schlechten Seite bleiben. Die Sudetendeutschen geben ihre Bereitschaft zu erkennen, uns bei der Überwindung dieses virtuellen Eisernen Vorhangs zu helfen. Nehmen wir sie beim Wort.
überregionale Prager Tageszeitung "Lidové noviny", 25. Mai 2013
Übersetzung Sylvia Janovská