Präsident Zeman ist sich treu geblieben

Herr Rašek wirft den „Kritikern“ (unklar ist, ob es sich um die Kritiker dieser Äußerung Zemans handelt, die seiner Meinung nach lediglich "undiplomatisch" war) vor, geschichtliche Gesichtspunkte außer Acht zu lassen. Für ihn ist der deutsche Terror in der Okkupationszeit das prinzipielle historische Erlebnis. Ich bin Jahrgang 1940 und somit etwas jünger als Herr Rašek, weshalb mir nicht klar ist, ob ich in die Kategorie der "Zeitzeugen" gehöre, die seiner Ansicht nach lügen, oder lediglich zu dem Personenkreis, der seine Bildungslücken auffüllen sollte.

Lieber Herr Rašek, das Problem besteht darin, dass Ihr Geschichtsbewusstsein ein völlig anderes als das meine ist. Ohne dass ich die deutschen Verbrechen während der Okkupation auf irgendeine Weise herunterspielen möchte, so stellt für mich dieser Zeitabschnitt so etwas wie die Gegenreformation im 16. Jahrhundert dar: Eine allseits verurteilungswürdige Geschichte, die auch verurteilt und somit abgeschlossen wurde und nicht mehr in unsere Gegenwart eingreift. Zu meinem Geschichtsbewusstsein gehören lange (mindestens) 42 Jahre, in denen die damalige Tschechoslowakei eine Kolonie (oder ein Protektorat, wenn Sie wollen) des kommunistischen russischen Imperiums war. Sicher war der Terror auf den ersten Blick weniger brutal als der deutsche. Allerdings dauerte er siebenmal so lange und griff - gewiss zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlicher Gewalt - in das tägliche Leben der tschechischen und slowakischen Bürger ein. Die politischen Prozesse der fünfziger Jahre erlebte ich als Kind. Dennoch begriff ich, dass sich hier etwas ereignet, für das es bis zu diesem Zeitpunkt im zivilisierten Europa keine Parallele gab. Dann kam der August 1968, die Niederschlagung der Reformbewegung des Prager Frühlings durch die sowjetische Armee. Es folgte die Zeit der "Normalisierung", ihre letzten Jahre, die Ära, in der sich für uns der Weg zur Freiheit öffnete. Und letztendlich kam es zur Entstehung der eigenständigen Tschechischen Republik. Und wie sich leider gerade jetzt ausdrucksvoll zeigt, ist diese Entwicklung, die Erlangung der Freiheit, vorerst nicht abgeschlossen und entschieden. Nicht, dass uns vielleicht die Rückkehr des Kommunismus drohen würde, sondern weil die heutige Demokratie auch aufgrund unserer mangelhaften Reflexion der Vergangenheit leicht wieder in eine autoritäre Form der Macht entgleisen kann. Seien Sie mir nicht böse, Herr Rašek, aber gerade wegen der letztgenannten Gefahr halte ich mein Geschichtsbewusstsein für legitimer als das Ihre.

Soviel allgemein, nun zu den Einzelheiten:

Herr Rašek spricht davon, dass die Nazis die tschechische Intelligenz, die Soldaten, die Mitglieder des Turnvereins Sokol und die Kommunisten (eine putzige Auswahl) bewusst liquidiert haben. Die Vermögensschäden seien größer gewesen als das Eigentum der Sudetendeutschen. Waren die Sudetendeutschen mit den Nazis identisch? Und gilt, dass ein Bürger mit seinem persönlichen Eigentum für die Verbrechen eines autokratischen Regimes haftet? Den nach Kriegsende erlassenen Dekreten zufolge musste ein Bürger deutscher oder ungarischer Nationalität zur "Schuldfreisprechung" nachweisen, dass er der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben war, sich niemals gegen das tschechische und das slowakische Volk vergangen und zudem unter dem nazistischen Terror gelitten oder am Widerstandskampf teilgenommen hat. Wenn ähnliche Kriterien auch auf uns Tschechen in der Beziehung zum Kommunismus angewandt worden wären, hätten wir im November 1989 mit nackten Hinterteilen auf den Straßen und Plätzen gestanden.

Herr Rašek schreibt, dass die Menschen sechs Jahre in Angst und Not gelebt und den Krieg erlebt haben, was nicht ohne die Entwicklung von Hass abgehen konnte. Doch der Hass muss immer und unter allen Umständen bekämpft werden. Das, was verständlich ist, ist etwas anderes, als das, was richtig ist.

Herr Rašek spricht davon, dass gegen Kriegsende rund 25 000 Deutsche ums Leben gekommen seien - ein Drittel in den verlaufenden Kämpfen, ein Drittel habe Selbstmord begangen, der Rest sei bei der Besetzung der Grenzgebiete umgekommen. Zweifelsohne war die Zahl der Todesopfer höher und zu behaupten, dass ein Drittel bei den Kämpfen umgekommen sei und ein Drittel sich selbst getötet habe, bedeutet eigentlich, diese Menschen von den Opfern auszunehmen und anzudeuten, sie seien selbst ein bisschen für ihren Tod verantwortlich gewesen.

Erwägungen, was geschehen wäre, wenn es Anfang August 1945 nicht zur "Entscheidung der Großmächte" gekommen wäre, sind absurd. Zum einen kam es zu keiner Entscheidung der Großmächte. Diese nahmen einfach zur Kenntnis, dass die - bereits spontan verlaufenden - Deportationen der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen aus Mittel- und Osteuropa unausweichlich waren (und übernahmen dafür die Mitverantwortung). Wesentlich ist, dass derartige Maßnahmen inakzeptabel und unmenschlich sind. Ausreden, was gewesen wäre, wenn sich etwas anders ereignet hätte als das, was wirklich vorgefallen und unwiderruflich ist, sind inakzeptabel, würdelos und haben nur eine Alibifunktion.

Und zum Schluss: Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Entfachung einer anti-sudetendeutschen Hysterie (heute, in einer Zeit, in der der Großteil der Vertriebenen nicht mehr lebt) zweckdienlich ist. Diese Hysterie dient dazu, dass der Eiserne Vorhang, der uns so lange vom zivilisierten Westen (zu dem auch schon lange Deutschland gehörthttps://www.google.cz/) getrennt hat, zumindest im immateriellen Sinne des Wortes noch immer existent ist. Das passt zweifelsohne vielen zynischen politischen Manipulatoren sowohl bei uns in Tschechien als auch im "nahen Ausland" ins Geschäft.

Online-Ausgabe der gesellschaftspolitischen tschechischen Zeitschrift "Reflex", 3. Mai 2013
Übersetzung Sylvia Janovská