Premier Nečas und die Trennung von der Vergangenheit

Nach der erfolglosen Präsidentschaftskampagne von Karel Schwarzenberg sah es so aus, dass das Thema der "Ereignisse der Jahre 1945-1946" bei uns in Tschechien aufgrund des Unvermögens des Kandidaten für eine bestimmte Zeit einzementiert ist. Auch aus diesem Grund stellt die Rede, die Premier Nečas im bayerischen Landtag gehalten hat, in einem gewissen Maß eine Überraschung dar. Eigentlich sagte Nečas in ihr nichts, was bislang von der tschechischen Seite offiziell nicht gesagt worden wäre - dennoch war es das Normalste und zugleich Würdevollste, was irgendwann von tschechischer Seite aus erklungen ist.

Nečas hat genau das getan, was Schwarzenberg in seiner Kampagne hätte tun sollen, aber nicht getan hat: Er äußerte seinen persönlichen Standpunkt zur Nachkriegsdeportation der Deutschen aus der Tschechoslowakei buchstäblich im Einklang mit Artikel III der Deutsch-Tschechischen Erklärung (lediglich statt "die tschechische Seite bedauert" sagte er "wir bedauern"). Die Aussage ist völlig eindeutig. Zugleich merkte Nečas an, dass nur sehr wenig von dem Schlechten, was in der Geschichte geschehen ist, wieder gut gemacht werden kann, und die Vermögensverhältnisse vor dem Krieg nicht wieder hergestellt werden können. Das Problem besteht teilweise darin, dass die Restitutionen nach der politischen Wende von 1989 den Eindruck erweckt haben, dass man die "Vermögensverhältnisse" zu etwa 50 Prozent wieder herstellen kann (das ist allerdings das Problem der Restitutionen nach der politischen Wende, manche waren am Anfang gegen die Rückerstattungen). Zudem ist anzunehmen, dass der Weg einer bescheideneren "Milderung der Folgen einigen Unrechts" möglich war und ist, der nicht den Charakter einer Vermögensrückerstattung haben muss. Der Kern der Angelegenheit verbirgt sich jedoch an einer völlig anderen Stelle.

In der Wahlkampagne stellte der Historiker Jan Kuklík dem Präsidentschaftskandidaten Schwarzenberg die Frage, was seiner Ansicht nach der damalige Präsident Edvard Beneš mit den Deutsch-Böhmen nach 1945 hätte machen sollen. Das ist - wie das scheidende Staatsoberhaupt Václav Klaus sagen würde - eine schlecht gestellte Frage. Sie hängt mit der tschechischen Staatsdoktrin zusammen, wonach es dafür eine Ursache gibt, nämlich Hitler und den nationalsozialistischen Terror, die eine Folge zeitigte, nämlich die Deportation der Deutschen. Wir Tschechen hatten keine andere Möglichkeit, und haben somit ein Alibi.

Dazu muss erstens völlig allgemein gesagt werden, dass der Mensch und somit auch ein Politiker bei jeder Entscheidung frei sind und unter mehreren Alternativen wählen können. Beneš hat einfach schlecht gewählt. Und zweitens ist es heute sinnlos, einem seit 65 Jahren toten Politiker zu raten, was er vor 68 Jahren hätte tun sollen. Die richtige Frage lautet anders: Was bedeutete diese Entscheidung im Kontext der damaligen Politik, und wie hat sie unsere Geschichte beeinflusst?

Beneš und die tschechische politische Repräsentation entschieden sich während des Krieges und kurz nach ihm für die Umsetzung von drei radikalen Maßnahmen. Die erste war die Reglementierung des politischen Systems in der sogenannten Nationalen Front: das Verbot der Opposition und die alleinige Genehmigung ausgewählter Parteien der Ersten Republik. Neue Parteien durften lediglich im Rahmen der Nationalen Front und mit Zustimmung ihrer Blockmitglieder entstehen. Das war ein politisches Kartell, wogegen der 1998 zwischen den damaligen Parteichefs Klaus und Miloš Zeman (dem Nachfolger von Klaus im Amt des Staatspräsidenten) geschlossene "Oppositionsvertrag" ein harmloser Spaß war. Was dann 1948 entstand, nämlich das faktische Machtmonopol der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, war nur ein weiterer, endgültiger Schritt in die Unfreiheit. Auf dem Weg in die Unfreiheit lassen sich schlecht die Bremsen ziehen.

Die zweite prägnante Maßnahme bestand in der Enteignung von mehr als 70 Prozent der tschechischen Industrie mittels der Verstaatlichungsdekrete, an deren Endfassung sozialdemokratische Politiker massiv beteiligt waren. Dadurch wurde die Freiheit des Eigentums sowie des Unternehmertums markant eingeschränkt. Das Jahr 1948 bedeutete wiederum nur einen weiteren, endgültigen Schritt.

Und letztendlich die dritte, drastische Einschränkung der bürgerlichen Grundrechte und -freiheiten für mehr als ein Viertel der Bevölkerung der Tschechoslowakei (Deutsche und Ungarn), die Konfiskation sämtlichen Vermögens und die Nichtanerkennung bzw. der Entzug der Staatsbürgerschaft (die Vertreibung der Ungarn scheiterte am Widerstand der westlichen Alliierten und am Desinteresse der Russen). 1948 erlebten dann auch die restlichen Einwohner der Tschechoslowakei die drastische Einschränkung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten.

Kern der Sache ist, dass in allen drei Fällen diese scheibchenweise Liquidierung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten eine notwendige Begleiterscheinung der Integration der Tschechoslowakei in das russische kommunistische Kolonialreich war. Und die russische Unterstützung der "Abschiebung" der Deutschen war demnach ausgesprochen pragmatisch.

Nach der Wende im November 1989 wurden die staatliche Souveränität der Tschechoslowakei wieder hergestellt (die Russen respektierten das damals), das demokratische politische System rekonstruiert, die Grundrechte und Grundfreiheiten erneuert. Die tschechische Gesellschaft kehrte in das Umfeld zurück, in dem sie sich tausend Jahre lang entwickelt hatte, in das Umfeld, das wir mit dem Wort Westen bezeichnen. Gestalt nahm es u. a. in unserer Mitgliedschaft in der NATO und in der EU an.

Im Westen des Kontinents war es bereits längst zuvor gelungen, die infolge des Zweiten Weltkriegs entstandene Teilung Europas zu überwinden. Angesichts der aus der Vergangenheit herrührenden Probleme ist unsere (die tschechische) Integration noch immer lückenhaft. Während heute Deutschland und Österreich einen organischen und problemlosen Bestandteil des Westens bilden, blutet an unserer südlichen und westlichen Grenze noch immer die unverheilte Wunde nach dem Eisernen Vorhang. Dies würden daheim und auch außerhalb gern diejenigen ausnutzen, die sich nicht mit den Änderungen nach der politischen Wende abgefunden haben. Das Problem besteht demnach nicht zwischen den "Linken" und den "Rechten". Die Begriffe Rechte und Linke haben nur Sinn im Rahmen des Westens, in den wir uns unter Schwierigkeiten integrieren. Und manch einem gefällt das nicht. Das Problem besteht zwischen dem Westen und dem Osten. Und das stellt zugleich das Problem zwischen unserer Gegenwart und der Vergangenheit vor dem November 1989 dar.

In diesem Sinn bedeutet die Rede von Nečas einen Schritt in die richtige Richtung.

überregionale Prager Tageszeitung "Lidové noviny", 26. Februar 2013
Übersetzung Sylvia Janovská