Obwohl tausendmal begraben, leben sie wieder auf
Die Rede ist von den Beneš-Dekreten. Die tschechoslowakischen Nachkriegsverordnungen wurden erneut im Europäischen Parlament erörtert, u. a. aus Initiative des ungarischen Juristen Imre Juhász. Abermals gelangte Ungarn damit in das Blickfeld tschechischer Journalisten. Allerdings würde die Angelegenheit doch etwas mehr als dumme Bemerkungen verdienen, dass die Verteidiger der Dekrete und ihre Kritiker einander brauchen. Worum geht es also?
Der erwähnte Imre Juhász hat sich gemeinsam mit Alida Hahn-Seidl aus der BRD mit einer Petition an das Europäische Parlament gewandt. Die Eingabe betrifft primär die Erklärung des Nationalrats der Slowakischen Republik vom 20. 9. 2007 "über die Unantastbarkeit der Nachkriegsdokumente zur Regelung der Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg". Dieser Beschluss ist in einer wesentlichen Passage praktisch mit der Resolution der Abgeordnetenkammer des Parlaments der Tschechischen Republik vom 24. 4. 2002 identisch, der zufolge "die durch diese Entscheidungen entstandenen Rechts- und Vermögensverhältnisse unbezweifelbar, unantastbar und unveränderlich sind."
Die gemeinsame Petition von Juhász und Hahn-Seidl ersucht das Europäische Parlament, die Slowakei zur Streichung dieser Erklärung aufzufordern, die Vereinbarkeit der Dekrete mit der Rechtsordnung der EU zu überprüfen und die slowakischen Institutionen zu veranlassen, sich bei den Angehörigen der ungarischen und der deutschen Minderheit zu entschuldigen. Zudem soll die Slowakei diesen Bevölkerungsgruppen eine würdige Entschädigung gewähren sowie die noch lebenden Personen zur Rechenschaft ziehen, die für die an den slowakischen Deutschen und Ungarn begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind. Falls die Slowakei nicht gebührend reagiert, sollte der Petition zufolge der Europäische Rat konstatieren, dass das Land die Prinzipien von Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verletzt und seine Mitgliedsrechte einfrieren. Die Forderungen sind - wie ersichtlich - ausgesprochen hart.
Die Autoren übergaben die Petition am 12. 1. 2012 dem Europäischen Parlament, wo sich ihrer der EP-Abgeordnete Zoltán Bagó (ungarische Regierungspartei FIDESZ)annahm. Die Eingabe wurde als formell zulässig bezeichnet, und der Petitionsausschuss begann sich mit ihr zu befassen. Er forderte die Europäische Kommission zu einer Stellungnahme auf und setzte die Petition auf die Tagesordnung der Sitzung am 20. September 2012. Und das ist auch geschehen.
Die Stellungnahme der EK barg keine Überraschung: In ihr wird behauptet, dass die Beneš-Dekrete vor dem EU-Beitritt der Slowakei angenommen wurden und heute keine Wirksamkeit mehr haben, die im Widerspruch zum Unionsrecht stehen würde. Es sei Sache des Mitgliedsstaates, wie er den Verpflichtungen hinsichtlich der sich aus völkerrechtlichen Verträgen und internen Vorschriften ergebenden Grundrechte nachkommt. Der Petent solle sich an die staatlichen Institutionen wenden. Berufung könne er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einlegen.
Dieser Standpunkt der EK wurde allerdings bei der Behandlung im Petitionsausschuss nur von dem rumänischen Sozialdemokrat Victor Boştinaru unterstützt. Hinter die Eingabe stellten sich die ungarischen Europaabgeordneten, und zwar nicht nur Zoltán Bagó, Ágnes Hankiss (beide FIDESZ) und Krisztina Morvai (rechtsradikale Partei Jobbik), sondern auch der Sozialist Csaba Tabajdi. Den ungarischen Standpunkt unterstützten die deutschen Europaabgeordneten Peter Jahr (CDU) und Gerald Häfner (die Grünen) sowie die lettische EP-Mandatsträgerin Tatjana Ždanoka (Grüne). Ansonsten trat bei der Debatte kein weiterer Abgeordneter mehr auf. Nachfolgend stellte die die Sitzung leitende Ausschussvorsitzende Erminia Mazzoni fest, dass die Resolution des slowakischen Parlaments aufgrund der überwiegenden Meinung auf der Tagesordnung bleibt und der Ausschuss Vertreter der Regierung in Bratislava einladen wird, damit sie sich zu der Angelegenheit äußern.
Das Problem der Beneš-Dekrete steht somit wieder auf dem Tagesprogramm. Die Nachkriegsverordnungen des damaligen tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš (1884-1948) widersprechen den Grundprinzipien, auf denen das Rechtswesen der Länder des euroatlantischen Bereichs basiert (vor allem der Unzulässigkeit der Kollektivschuld und der Retroaktivität). Zugleich ist vom politischen Gesichtspunkt aus offensichtlich, dass jede prinzipielle Änderung des auf der Grundlage der "Applikation" der Dekrete entstandenen Zustandes bereits im Jahr 1990 unmöglich war: Es handelte sich um ein Massenverbrechen großen Ausmaßes und seit seiner Verübung waren schon viele Jahre vergangen. Das bedeutet aber nicht, dass nichts getan werden könnte oder nichts gemacht werden sollte. Was schon damals möglich war, ist die "Milderung der Folgen einigen Unrechts" auf dem Weg einer Vereinbarung zwischen den Rechtsnachfolgern der Täter und den Vertretern der Betroffenen. Stattdessen erreichten die tschechischen Politiker und ihre journalistische und historische Lobby, dass die ganze Sache konserviert und in der Hoffnung abgelegt wurde, dass sie unter dem Druck der "gemeinsamen Zukunft" in Vergessenheit gerät. Die slowakischen Politiker traten leider in die tschechische Spur. Beispiele ziehen an, hauptsächlich die schlechten. Hier geblieben ist eine nichtbestattete Leiche, die sich zersetzt und die Luft verpestet. Obwohl sich die deutsche politische Repräsentation mit dieser tschechischen (und slowakischen) Einstellung notgedrungen abgefunden hat, haben die kleineren betroffenen Staaten (Ungarn, teilweise aber auch Österreich) mit ihr ein größeres Problem. Die Angelegenheit betrifft sie unmittelbarer als Deutschland.
Es handelt sich um ein mitteleuropäisches Problem: Die westlichen Demokratien segneten letztendlich im Einklang mit Stalins Russland die mit Vermögenskonfiskationen verbundenen Massendeportationen der Einwohnerschaft ab. Sie mussten wissen, dass diese unmenschlich verlaufen und verlaufen werden. Russland beherrschte dann spielend leicht den mitteleuropäischen Raum, in dem Täter und Opfer beisammen lebten und allein aus diesem Grund für die Russen einfach zu kontrollieren war. Der Westen verlor dagegen für viele Jahre jeglichen politischen Einfluss auf dieses Territorium.
Die in der Vergangenheit entstandenen Konflikte gefährden Mittel- und Osteuropa auch heute und machen aus dieser Region ein potenziell appetitliches Opfer für imperiale Gelüste aus dem Osten. Diese Situation ist äußerst gefährlich, obwohl ich nicht weiß, was mit ihr noch getan werden kann. Doch etwas sollte mit ihr gemacht werden.
überregionale Tageszeitung "Lidové noviny" 26. September 2012
Übersetzung Sylvia Janovská