Gaucks Appell

Anlässlich des 70. Jahrestages der Auslöschung von Lidice hat der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck seinem tschechischen Kollegen Václav Klaus ein Schreiben gesandt. Der Ton des Briefes ist äußerst expressiv (Gauck spricht von "unbarmherzigen Verbrechen", "Trauer und Scham"). Und das deutsche Staatsoberhaupt stellt in dem Schreiben fest, dass sich "Deutschland seiner geschichtlichen Verantwortung bewusst ist" für das, was geschehen ist.

Der Brief traf auf der tschechischen Seite mehrheitlich auf positiven Widerhall. Insofern es sich um die Verfassungsträger handelt, so antwortete Adressat Klaus Gauck freundlich. Auf ähnliche Weise äußerten sich auch die Präsidentin der Abgeordnetenkammer des Parlaments und der Außenminister. Positiv reagierte gleichfalls die Bürgermeisterin von Lidice und ein Zitat ist auch die Äußerung einer der beiden Überlebenden von Ležáky (Das ostböhmische Dorf Ležáky wurde sozusagen komplett ausgerottet. Nur zwei kleine Kinder konnten sich retten. Sie wurden deutschen Familien zur "Umerziehung" anvertraut.) wert: "Mir ist bewusst, dass die gegenwärtige Generation unserer westlichen Nachbarn nichts mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Zweiten Weltkrieges gemein hat. Ich bin froh, dass ich in dieser Zeit lebe, und ich danke Ihnen (d. h. Bundespräsident Gauck) für Ihre Geste. Es ist nicht nötig, dass in den Menschen die falschen Vorstellungen von den bösen Deutschen überdauern."

Der deutsche Präsident hielt sich peinlich genau an das Thema und schrieb ausschließlich über die deutsche Verantwortung für die Auslöschung von Lidice und die nachfolgenden Repressionen. Ich betrachte das - vor allem insofern es sich um die dunklen Seiten der deutsch-tschechischen Beziehungen handelt - für richtig und ausgesprochen glücklich.

Im Vergleich dazu hatten die Aussagen einiger weiterer Politiker und hauptsächlich dann von "Experten" (Historiker, Politologen) einen sehr eigenartigen Klang. Dem stellvertretenden Vorsitzenden der oppositionellen Sozialdemokraten (ČSSD), Lubomír Zaorálek, zufolge ist es angeblich gut, dass sich die deutsche Seite zu ihrer geschichtlichen Verantwortung bekannt hat. (Sie bekennt sich dazu schon ein paar Jahrzehnte, nur wir Tschechen leiden an chronischer Schwerhörigkeit.) Der Parlamentsabgeordnete Jan Hamáček (gleichfalls ČSSD) konstatierte wiederum mit Vergnügen, Deutschland bemühe sich nicht, in die Vergangenheit zurückzukehren: (Das verstehe ich nicht. Herr Gauck kehrt schließlich in die Vergangenheit zurück, nämlich zu dem Massaker von Lidice im Jahr 1942. Es scheint, dass es sich für Herrn Hamáčeka um die Gegenwart handelt.)

Insofern es um die Historiker geht, so sagte Pavel Suk, es handele sich nach langen siebzig Jahren um eine der wichtigsten Äußerungen der deutschen Seite. (Es wurde demnach siebzig Jahre lang geschwiegen, und jetzt gibt es auf einmal mehrere dieser positiven Äußerungen.) Laut Suks Historiker-Kollegen Oldřich Tůma haben die „Deutschen zwar die Auslöschung von Lidice verurteilt, weil diese nicht zu übersehen ist, aber zugleich haben sie behauptet, dass es den Tschechen ansonsten im Protektorat gut ging…" Welche Deutschen, welche deutschen Verfassungsträger? Die Begründung, sie hätten verurteilt, weil ihnen nichts anderes übrig blieb ("sie waren gezwungen, zuzugeben", wie es während des totalitären Regimes hieß), ist von ihrem Wesen her anstößig. Die Krone setzte allem der Politologe Petr Just auf. Bis jetzt waren das angeblich nur "obligatorische diplomatische Entschuldigungen". Das ist eine Frechheit, würde ich sagen.

Es ist demnach eine Art Jury zusammengetreten, ähnlich derer bei Schönheitswettbewerben, die beurteilen soll, ob sich der deutsche Bundespräsident ausreichend entschuldigt hat. Es scheint, dass das diesmal fast der Fall war.

Es wäre wahrscheinlich angebracht, zu dem zurückzukehren, was der Abgeordnete Hamáček gesagt hat: Die Deutschen dürfen nicht in die Vergangenheit (die tschechische) zurückkehren. Warum? Wir leben nämlich in ihr. Schon an sich ist dort nur wenig Platz. Und wir müssen Acht geben, dass sie uns (den Tschechen) nicht jemand einreißt.

In Wirklichkeit handelt es sich um die gemeinsame tschechisch-deutsche Vergangenheit. Der deutsche Präsident kehrte zum deutschen Anteil zurück. Tschechische Experten beurteilen, ob er es gebührend getan hat. Ein anständiger Mensch würde eher erwarten, dass sie sich an Gaucks Vorgehensweise ein Beispiel nehmen, und dass sich jemand zumindest die Frage stellt: Haben wir nicht zufälligerweise etwa auch Dreck am Stecken? Nicht während des Krieges, gewiss, aber gleich nach seinem Ende.

Es geht darum, was die Tschechen mit drei Millionen Deutsch-Böhmen getan haben. Mit dem Holocaust kann man das zwar nicht vergleichen, aber das ist noch kein Grund für den Aufbau eines Alibis als Staatsdoktrin. Dessen Pfeiler sind: Sicher, es gab hier Exzesse, aber der Gedanke der "Abschiebung" an sich war okay: a)Damals haben das alle gemacht, weil die Menschenrechte in der heutigen Form noch nicht existierten. b) Wir hatten damals einen guten Grund, dies zu tun, weil die Deutschen begonnen hatten. Der tschechische Präsident Klaus hat (einst, als er noch nicht Präsident war) verbindlich erklärt, heute würden wir das nicht mehr machen (warum auch?)und versprochen, dass wir uns nicht damit brüsten werden.

Gaucks Brief ist demnach, wenn auch indirekt, ein Appell. Bislang hat niemand auf ihn reagiert. Oder genauer gesagt: Fast niemand. Außenminister Karel Schwarzenberg seufzte: Es wäre schön, wenn wir ähnlich großzügig wären. Und die Parlamentsabgeordnete Kateřina Klasnová sagte (zumindest laut der Nachrichtenagentur Mediafax) u. a., man vergesse in der Tschechischen Republik einige mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängende Ereignisse. "Auf der einen Seite sind selbstverständlich Lidice und Ležáky. Auf der anderen Seite ist aber die Abschiebung der Sudetendeutschen nach Kriegsende. Möglicherweise könnten wir in dieser Hinsicht auch bei uns eine Selbstreflexion finden."

Frau Klasnová hat genau das gesagt, was gesagt werden musste und anständig war. Ich bin neugierig, ob sie ihre Haltung bewahren wird.

überregionale Tageszeitung "Lidové noviny", 11. Juni 2012
Übersetzung Sylvia Janovská