Die Toten von Lidice verdienen wahrhafte Pietät
In Lidice war ich zum ersten Mal mit meinen Eltern als kleines Kind, kurz nach dem Krieg. Ich erinnere mich an ein großes Holzkreuz mit einer Dornenkrone. An die freigelegten Fundamente mehrerer zerstörter Gebäude. Ansonsten nur an eine große grüne Wiese. Niemand würde glauben, dass die Fotografien, die dort zu sehen waren und auf denen ein ganz normales tschechisches Dorf mit einer schönen Barockkirche abgebildet war, die Stelle einfangen, auf der wir gerade standen. Es war würdevoll und zugleich ein bisschen wie in einem Horror.
Seit dieser Zeit hat sich viel verändert. Ein neues Dorf ist entstanden, ein Stück entfernt von der Stelle, wo das ursprüngliche stand. Eine Kirche, zumindest im traditionellen Sinne des Wortes, hat das Dorf nicht. Wozu auch, seit dem Jahr 1948 brauchen immer weniger Menschen Gotteshäuser. Dafür befindet sich dort so etwas wie eine riesige Opferstätte und auch eine Art Kloster. Auf der Opferstätte spielten sich bereits unter den Kommunisten Jahr für Jahr so etwas wie grandiose, salbungsvolle Gottesdienste ab. Nach der Wende werden diese fortgesetzt.
Zu jeder Zeremonie gehören Amtsträger. In diesem Jahr traten die Präsidentin der Abgeordnetenkammer des tschechischen Parlaments, Miroslava Němcová, und Ministerpräsident Petr Nečas auf. Im Wettbewerb um die mit pathetischeren, hohleren und stärkeren Wörtern geladene Ansprache errang das Oberhaupt der Exekutive mühelos das Primat: monströse Ideologie, verbrecherisches Regime, bestialisches Wesen des Nazismus, Kampf zwischen Verrohung und Menschlichkeit. Das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich im Juni 1942 zerstörte angeblich ein für allemal den Mythos von der nazistischen Unbesiegbarkeit. Das ist ausgesprochener Unsinn, dieser Mythos wurde durch die deutsche Niederlage bei Stalingrad in Trümmer zerschlagen. Immer wenn ich solche dumme Sprüche höre, frage ich mich, warum das die Leute machen. Ich bin nicht der Ansicht, dass sie damit neue Wähler gewinnen wollen, eher haben sie die Hose voll. Sie haben Angst, dass sie um die Wähler kommen. Sie fürchten sich vor der Opposition, den Kommunisten, den Russen, und weiß der Teufel, vor wem noch. Das ist kein schöner Anblick. Irgendjemand hat erklärt, dass von den Politikern nur der Staatspräsident in Lidice sprechen sollte. Das hat etwas für sich. Leider reiste Präsident Klaus in die USA, um gegen die Europäische Union zu kämpfen. Sicher wird er den Schaden wieder gut machen, wenn er zurückkehrt.
Auch einer der Mönche aus dem Kloster sprach vor den Kameras des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehens, ein studierter tschechischer Historiker, ein junger Mensch. Er erklärte, die Alliierten hätten nach dem Krieg in Erwägung zogen, dass sie in Reaktion auf Lidice einige Dörfer in Deutschland auf ähnliche Weise auslöschen würden. Ich spürte in seiner Stimme so etwas wie einen Hauch von Enttäuschung, dass das nicht geschehen ist. Sicher, ein Krieg ist schrecklich. Aber vielleicht könnten die durch flächendeckende Bombardements zerstörten deutschen Städte genügen, die Hunderttausenden toten Zivilisten, die nicht näher bestimmten Tausenden Toten bei der "Abschiebung" der Deutsch-Böhmen. Jetzt kläre ich an dieser Stelle nicht gerade die Frage, ob das in Ordnung war oder nicht. Ich sage nur, dass das vielleicht genügen könnte.
Einen Augenblick habe ich mir vorgestellt, dass auf einmal der als Symbol der tschechischen Nation geltende Říp (Georgsberg)in seiner Eigenschaft als ehemaliger Vulkan erneut Feuer zu speien beginnen und die weite Umgebung mit Asche und Lava zuschütten würde - ähnlich wie einst der Vesuv Pompeji. Und nach Jahrtausenden würden die Menschen diesen Ort als eine Art weiteres Stonehenge freilegen. Erkennen Sie, wozu er einst diente?
Ich bekenne, dass mir aus all diesen Gründen die Toten von Lidice doppelt leidtun. Es waren keine Widerstandskämpfer und zum Großteil sicher auch keine Kommunisten. Es waren gewöhnliche tschechische Dorfbewohner. Hitler erwählte sie zur Zielscheibe für seine Rache. Ich gebe Ministerpräsident Nečas zumindest in dem Punkt Recht, dass das den Charakter dieser Tragödie keinesfalls schwächt. Die Toten würden wahrhafte Pietät verdienen.
Online-Ausgabe der gesellschaftspolitischen tschechischen Zeitschrift "Reflex"; reflex.cz, 11. Juni 2012
Übersetzung Sylvia Janovská