Der Mai – der Monat des Hasses
„Spätabends war's - der erste Mai, ein Abendmai - der Liebe Zeit", mit diesen geflügelten Worten beginnt das bekannte Kurzepos des tschechischen Dichters Karel Hynek Mácha. Diese Auffassung vom Monat Mai ist kein tschechisches Spezifikum. Ein tschechisches Spezifikum ist jedoch die Eigenartigkeit der Feiern, die auf den Mai entfallen: Sie erwecken den Verdacht, dass die Reden über die Zeit der Liebe in unserem Fall heuchlerisch sind. Die Praxis sieht nämlich anders aus.
Ich spreche vom etablierten Modus der Feierlichkeiten anlässlich des Endes des Zweiten Weltkrieges. Der Krieg ging vor fast siebzig Jahren zu Ende. Sicher ist das ein Grund, um zu feiern, den Gefallenen und Opfern Ehre zu erweisen, den Helden, die mit der Waffe in der Hand dem nazistischen Deutschland Widerstand leisteten und zu seiner Niederlage beitrugen, Bewunderung zu äußern. Ein derartiger Modus ist absolut kein Hindernis, um darüber zu sprechen, was während des Krieges sowie unmittelbar nach ihm geschehen ist. Und zwar wie über Ereignisse der Vergangenheit - das bedeutet mit Abstand, sachlich, und wo es notwendig ist, auch kritisch.
In Tschechien geschieht etwas völlig anderes: Das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und sein Ende sind mit der Hervorrufung der gesellschaftlichen Atmosphäre verbunden, die hier im Mai 1945 herrschte. Zu ihr gehörten aufgewühlte Emotionen und eine gehörige Portion Hass auf den besiegten Feind, was in der damaligen Zeit in gewisser Weise verständlich war. Und so hat man bei uns immer etwa einen Monat im Jahr den Eindruck, dass der Krieg gerade jetzt zu Ende gegangen ist, genauer gesagt, dass sein Ende immer wieder aufs Neue und Neue rituell erkämpft werden muss. Hinter dieser Hysterie verbirgt sich offenbar ein schlechtes Gewissen: Manches von dem, was bei uns unmittelbar nach dem Krieg geschah (ich meine damit vor allem den unmenschlichen Umgang mit der deutschsprachigen Bevölkerung der damaligen Tschechoslowakischen Republik), war zwar verständlich und lässt sich erklären, aber auf keinen Fall rechtfertigen. Insbesondere diejenigen, die aus dem damaligen Geschehen Nutzen zogen, versuchen seit dieser Zeit das Volk zu überzeugen, es sei für alle nützlich gewesen, und dass gerade das diese Taten legitimiert. Die plumpe Verkrampftheit dieser populistischen List ist auf den ersten Blick offensichtlich. Und so geht es uns wie dem traurigen Helden in Chaplins Groteske, der zehn Jahre nach dem Krieg (dem ersten) noch einen verlassenen Schützengraben bei Verdun bewacht - weil er nicht bemerkt hatte, dass die Schlacht schon vorbei ist.
Diese Hysterie ähnelt dem riesigen Strudel des Maelström. Sie absorbiert nicht nur Ereignisse, die sich zwar schon lange vor Kriegsende abspielten, aber mit dem Krieg zusammenhängen, aber auch Geschehnisse, die überhaupt keine Verbindung zum Krieg haben. Wahllos seien hier zwei Beispiele aus der Ausgabe der Tageszeitung "Lidové noviny" vom 7. Mai genannt.
Vor einiger Zeit gewährte das Prager Büro der Sudetendeutschen Landsmannschaft dem künstlerischen Projekt "Rozeznění" (Erklingen), das der Ehrung der Opfer des im Juni 1942 von den deutschen Nationalsozialisten völlig zerstörten Dorfes Lidice dienen soll, einen finanziellen Zuschuss. Der Direktor der Lidicer Gedenkstätte zwang die Autoren des Projekts jedoch zur Rückgabe der Spende mit der Begründung, die deutsche Repräsentation habe sich nie regulär für die Verbrechen in Lidice entschuldigt, und Sudetendeutsche hätten sich als Dolmetscher an dem dortigen Massaker beteiligt. Sicher, die Dolmetscher waren keine Elsässer, diese beherrschten Französisch, aber kein Tschechisch. Außerdem dolmetschten in Lidice nicht alle mehr als drei Millionen Sudetendeutsche. Und niemand gibt zehn Millionen Tschechen die Schuld daran, dass sich unter ihnen ein paar (in diesem Fall ein paar Tausend) Schurken fanden, die mit russischer Unterstützung stalinistische Repressionen ausführten. Der bekannte tschechische Religionsphilosoph und Soziologe, Professor Tomáš Halík, wagte in diesem Fall den völlig sachlichen Einwand, der Druck auf die beleidigende Rückgabe der finanziellen Zuwendung sei ein Ausdruck des absoluten Unverständnisses des Projekts. Dessen Sinn bestand darin, aus Lidice einen Ort der Versöhnung und keinesfalls zur Potenzierung des nationalistischen Hasses zu machen. Darauf antwortete der Journalist Daniel Kaiser in "Lidové noviny", Lidice könnte nicht zu einer Stätte der Versöhnung werden, sondern im "Idealfall" ein Ort der Demut der heutigen Besucher (aus Deutschland, versteht sich), die so etwas wie eine indirekte Verantwortung für die Täter spüren. Kurz und gut, Deutsche dürfen nach Lidice höchstens auf den Knien kriechen.
In derselben Ausgabe von "Lidove noviny" schrieb der Publizist Zdeněk Zacpal über eine zeitlich weit zurückliegende Angelegenheit, und zwar über die Wiedererrichtung der Mariensäule auf dem Altstädter Ring in Prag (das erste Mal war das Standbild im Jahr 1650 aufgestellt worden). Dem Autor des Artikels zufolge ist es notwendig, dass sich die tschechische Gesellschaft nicht an der Zeit der Knechtschaft inspiriert, sondern an der Ersten Republik und bei denen, die für diese Republik im Ersten Weltkrieg und dann für ihre Freiheit gegen die nazistischen und sowjetischen Usurpatoren kämpften.
Die tschechische Gesellschaft schleppt seit fast siebzig Jahren die Last eines latenten Hasses mit sich herum. Offen zeigt sich dies alljährlich im Mai und hat dabei eine Neigung zur Ausweitung (schließlich gehörten zum Krieg nicht nur die Monate Mai, sondern auch Juni oder beispielsweise Dezember). Der Hass verbreitet sich wie ein Krebsgeschwür auch in Bereiche, die überhaupt niemand mit dem Krieg verbindet: siehe die aggressive Rüpelhaftigkeit, die die Kundgebungen der Gewerkschaften in Tschechien begleiten (weitere erwarten uns noch innerhalb eines Monats).
Die Politik – nicht unsere, die tschechische, sondern die Politik überhaupt - stellte immer eine Technologie für die Beilegung von Konflikten dar, die ansonsten die Gesellschaft peinigen und vernichten würden. Im Westen steht die Politik auf christlichen Fundamenten: Sie basiert auf der Überzeugung, dass auch ein Feind ein Nächster ist, auf dem Gebot, die Nächsten zu lieben und ihnen - in diesem Rahmen - auch zu vergeben. Diese Prinzipien sind, wie der Staatsgründer und erste Präsident der Tschechoslowakei Tomáš G. Masaryk aufmerksam machte, nicht nur "sittlich", sondern auch praktisch.
In Tschechien besteht die Politik leider in der Erhaltung eines ständigen Pegels des Hasses in der Gesellschaft. Es handelt sich angeblich um den unversöhnlichen (einigen Theorien zufolge sogar um einen sich unaufhörlich verschärfenden) Klassenkampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen. In einer derart definierten und geleiteten Gesellschaft kann man nicht leben, und der Hass wird sie früher oder später zerfleischen.
Diese Auffassung der Politik wurde in der Zeit des russischen Kommunismus zur Vollkommenheit gebracht. Ohne größere Probleme hat sie auch die politische Wende vom November 1989 überstanden. Es bleibt nichts anderes übrig als festzustellen, dass die Transformation der tschechischen Gesellschaft in dieser prinzipiellen Angelegenheit bislang nicht gelungen ist.
überregionale Tageszeitung "Lidové noviny", 10. Mai 2012
Übersetzung Sylvia Janovská