Die unvollendete Transformation
Nach der politischen Wende vom November 1989 gilt in Tschechien, dass es die Pflicht des Staates ist, sich um die Prosperität der Bürger zu kümmern, was sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist. In diesem Rahmen verstehen die Menschen die nach 1989 einsetzenden Veränderungen als Ersatz eines nur wenig effizienten "Systems" durch ein besseres und wirkungsvolleres. Heute zeigt sich, dass auch das neue "System" grobe Mängel aufweist. Es erhebt sich die Frage, ob irgendein neues ausgedacht, zu dem alten zurückgekehrt oder beide Möglichkeiten kombiniert werden sollten.
Aus Sicht des Aufbaus und der Gewährleistung eines sich um die Prosperität der Bürger kümmernden Systems scheint die Rückgabe des unter den Kommunisten beschlagnahmten kirchlichen Besitzes eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Rückerstattung wurde einst im Rahmen der Erneuerung des Privateigentums aufgenommen, ohne die das neue System handlungsunfähig wäre, allerdings nicht als einer der substanziellsten Teile dieser Erneuerung. Wahrscheinlich auch aus diesem Grund zog sich die kirchliche Restitution so lange hin. Diese Vorstellung ist weit verbreitet. Ihr unterlag auch (der emeritierte) Prager Kardinal Miloslav Vlk. Er stellte die Frage, ob es angesichts der heutigen gespannten wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht angebracht wäre, die finanzielle Form der Eigentumsrückgabe auf einen geeigneteren Zeitpunkt zu verschieben. Man kann sich nur schwerlich des Verdachts erwehren, dass der Alt-Kardinal hinter dem vorgesehenen Vermögensausgleich eine über den Standard hinausgehende Lösung sieht, die sich die Tschechen gegenwärtig nicht erlauben können. Er hält offenbar eine Aufschiebung für technisch möglich, ohne dass es sich um eine Aufschiebung "für immer" handeln würde.
Das ist aber nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem besteht darin, dass das "System" in das wir Tschechen nach 1945 (auch durch eigene Bemühungen) geraten sind - der Kommunismus russischen Typs - nicht nur ineffizient, sondern auch barbarisch und unmenschlich war. Damit seine Einführung erfolgreich vonstattengehen konnte, mussten die Verbindungen zu unserer Vergangenheit und zu unserem Umfeld zerrissen werden, in dem wir in etwa seit dem zehnten Jahrhundert lebten. Jetzt müssen diese Verbindungen erneuert werden. Die Rückgabe des kirchlichen Eigentums ist in dieser Hinsicht eine Schwerpunktangelegenheit und ihre unaufhörliche Aufschiebung ein beängstigendes Symptom.
Eine sinnvolle Pflege der Zukunft muss auf dem Glauben (im allgemeinsten Sinne des Wortes)basieren. Die Kirchen (und die jüdischen Religionsgemeinschaften) sind unter anderem und vor allem traditionelle Institutionen für die Pflege des Glaubens. Tradition bedeutet immer ein hohes Maß an Artikulierung. Zum Christentum (und zum Judaismus) bekennen sich in diesem Sinn in Tschechien rund eine Million Bürger, also ein Zehntel der Bevölkerung. Das ist wiederum nicht so wenig. Die Mehrheit der tschechischen Gesellschaft misstraut den Kirchen jedoch, hält sie für überflüssig und ist höchstens bereit, sie zu tolerieren. Im russischen kommunistischen Modell gehörte sämtliches Eigentum dem Staat. Den Kirchen wurden bestimmte Objekte zur Nutzung geliehen und die nötigsten Mittel für den Betrieb gewährt. Zugleich behielt sich aber der Staat das Recht vor, dort in das Leben der Kirchen einzugreifen, wo er sich bedroht fühlte. Meiner Meinung nach erscheint dieses System auch heute noch vielen Menschen am wirksamsten, wobei sie möglicherweise bereit wären, bei der staatlichen Kontrolle eine bestimmte Großzügigkeit walten zu lassen. Es ist offensichtlich, dass die Kirchen in einem derartigen Milieu eine gewisse bedingte Autonomie und Autarkie haben müssen, und dies auch im materiellen Sinne des Wortes. Dieses Erfordernis wird auch dadurch legitimiert, dass die moderne Gesellschaftsordnung (liberale Demokratie), der Gedanke der Menschenrechte, die Idee des säkularen Staates und der Trennung von Kirche und Staat sowie die Religionstoleranz auf christlichen Fundamenten stehen.
Von diesem Blickpunkt aus ist die Wiederherstellung des kirchlichen Besitzstandes als materielle Voraussetzung für die Trennung von Kirche und Staat eine prinzipielle Angelegenheit.
Es handelt sich dabei in Tschechien nicht um die einzige zerrissene Verbindung. Ähnliches zeigt sich beispielsweise in der Unfähigkeit und Unwilligkeit, für die eigene Sicherheit so zu sorgen, dass wir sie mit anderen teilen und dann für die Sicherheit der Gesamtheit fähig sein werden, etwas zu opfern. Wegen des Widerstands der Mehrheit der heimischen Öffentlichkeit gelang es vor einiger Zeit nicht, die tschechische Teilnahme am Projekt eines Raketenabwehrsystems gegen unzuverlässige Länder und den Bereich des Mittleren und Fernen Ostens durchzusetzen. Zu einem grundsätzlichen Problem wurden die Präsenz einiger Dutzend amerikanischer Militärexperten auf tschechischem Staatsgebiet und das Risiko, dass wir jene allzu sehr auf uns aufmerksam machen, die uns gern eine Rakete hierher schicken würden. Die Unfähigkeit, irgendetwas zu opfern, steht z. B. im Widerspruch zu dem, was tausende Menschen aktiv in der Zeit der deutschen Okkupation und des Zweiten Weltkrieges bekundeten, dessen Ende wir alljährlich kultmäßig feiern.
Und letztendlich: Nach 1989 verlief in der tschechischen Öffentlichkeit eine Diskussion über die Vertreibung der Deutschböhmen und alle damit zusammenhängenden Aspekte einschließlich der sog. Beneš-Dekrete. Eine große Mehrheit der Öffentlichkeit war gegen eine prinzipielle Kritik dieser Nachkriegsmaßnahmen. Das Problem gelangte - verpackt in aalglatte politische Phrasen - nur völlig unwürdig auf die politische Ebene. In Wirklichkeit bedeuteten die erwähnten Maßnahmen die faktische Resignation auf die Prinzipien des Rechtsstaates und der Menschenrechte. Damit haben wir (die Tschechen) selbst die Schleusen geöffnet. Und nach 1948 wurden die neu eingeführten Bräuche (Enteignung, Vertreibung, Folter und Mord) auch auf die tschechische Gesellschaft appliziert.
Das sind drei Beispiele des Versagens, die die Stabilität, die Handlungsfähigkeit und die Effizienz des Systems nach 1989 behindern. Der heutige Staatspräsident Václav Klaus verkündete einst, die Tschechen müssten nicht nach Europa zurückkehren, weil sie dort von jeher seien. Diese Aussage muss im Sinn von Radio Eriwan präzisiert werden: Wir sind dort, wo wir sind, und im Großen und Ganzen gefällt es uns da. Das ist zu wenig.
überregionale Prager Tageszeitung "Mladá fronta Dnes", 7. Mai 2012
Übersetzung Sylvia Janovská