Ungarn, seine Regierung und das Mass
Von der Kritik zur europäischen Hexenjagd
Eine Bemerkung des slowenischen Ministerpräsidenten Borut Pahor, die Ende Mai 2011 vertraulich fiel, jedoch in die Öffentlichkeit durchsickerte, verhiess Ungarn nichts Gutes. Das Nachbarland und seine Regierung, sagte Pahor, würden nach dem Ende der ungarischen EU-Präsidentschaft gebrandmarkt und in Europa vollständig isoliert werden. Pahors Linksregierung gehört mittlerweile der Vergangenheit an, aber die Voraussage des slowenischen Politikers ist glänzend in Erfüllung gegangen. Er muss schon damals Genaues gewusst haben.
Nun ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Meinungen über die heutige ungarische Regierung auseinander gehen. Die Spielregeln der Demokratie sind nun einmal so. Der Verfasser dieser Zeilen gesteht, dass auch er manche Massnahme der Regierung Orbán und manches an ihrem Stil kritisch bewertet. Teile des Pressegesetzes sind offensichtlich verfehlt, und es ist schwer nachvollziehbar, warum eine neue Verfassung und eine lange Reihe von „Kardinalgesetzen“ so eilig und damit fehleranfällig verabschiedet werden mussten. Und einer Regierungspartei, die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, stünde es gut an, der Opposition gegenüber mehr Grosszügigkeit zu bezeigen.
Dem vorhin Gesagten sei aber gleich dies hinzugefügt: Die Kritik, die zurzeit an Ungarn ausserhalb des Landes geübt wird, geht über sachliche Einwände weit hinaus. Sie trägt heute schon Züge einer masslosen, beschämenden Hetzkampagne. Diese Hexenjagd, die Politiker und Medien der Linken (aber nicht nur sie) führen, hat zweifelhafte Ursprünge, sie zeugt oft von grotesker Unkenntnis Ungarns, sie vereinigt Ignoranz auch mit Böswilligkeit, und jene, die sich daran beteiligen, messen mit ungleichen Ellen. Der Platz hier reicht nur für einige wenige Beispiele.
Zweifelhafte Ursprünge. In der Tat, die ersten Angriffe gegen Viktor Orbán und seine Partei, den Bund junger Demokraten (Fidesz), wurden von Vertretern der heutigen ungarischen Opposition in die westliche Presse hineingetragen. György Konrád, der die Fidesz-Regierung mit einem wahrhaft alttestamentarischen Hass verfolgt, erklärte in einer solchen Publikation bereits kurz nach den Parlamentswahlen, Ungarn stehe nun zweifellos die Diktatur bevor. Nun mag Konrád ein bedeutender Schriftsteller sein. Kaum einer seiner ausländischen Leser weiss aber, dass er auch einer der geistigen Mentoren des linksliberalen Bunds Freier Demokraten ist, jener Partei, die bei den Wahlen 2010 den Einzug ins Parlament nicht mehr geschafft hat. Die von Konrád und anderen betriebene Pressekampagne riecht stark nach Revanche, nach dem Versuch, den zu Hause verlorenen Kampf im Ausland weiterzuführen. Was fremden Politikern und Presseleuten oft nicht bewusst sein dürfte: Beim heutigen Feldzug gegen Ungarns Regierung handelt es sich – frei nach Clausewitz – um die Fortsetzung der ungarischen Innenpolitik mit anderen Mitteln.
Unkenntnis. Wir hören: „Welch ein Skandal, Ungarn hat die Republik abgeschafft!“ Nun, im neuen Grundgesetz steht: „Der Name des Landes lautet Ungarn.“ Aber man lese zwei Zeilen weiter und wird dort finden: „Die Staatsform ist Republik“. Dann heisst es, in Ungarn herrsche Diktatur (das Land wurde auch schon mit Nordkorea in Parallele gestellt). Als Folge des Pressegesetzes, so sagt man uns, stöhne die Presse unter Zensur, die Journalisten fürchteten sich und seien nicht mehr frei. Wer dergleichen behauptet, kennt die Verhältnisse nicht (wer versteht schon Ungarisch?). In den öffentlichrechtlichen elektronischen Medien mag der Ton mehrheitlich regierungsfreundlich sein, nicht aber in allen privaten Fernsehkanälen und schon gar nicht in den Printmedien. Wenn, wie unlängst geschehen, eine Tageszeitung in Budapest in einem Offenen Brief an das Europäische Parlament Schritte gegen Ungarns „Willkürregime“ fordern kann, ohne dass den Redakteuren auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann sind wir von Zensur und Diktatur Gott sei Dank weit entfernt.
Ignoranz und Böswilligkeit. Man klagt Orbán an, seine Politik sei antisemitisch, und „Le Monde“ zeigt den Ministerpräsidenten in einer Karikatur in Naziuniform. Aber es war bereits die erste Regierung Orbán, die im Jahr 2000 in Ungarns Schulen den Holocaust-Gedenktag eingeführt hat. Und die heutige Regierung hat die extremistischen Garden für ungesetzlich erklärt, und sie sucht ihre Demonstrationen ebenso einzudämmen wie eine zuvor traditionelle Kundgebung europäischer Neonazis, die sich jedes Jahr Mitte Februar in der Burg von Buda zu treffen pflegten. Ich gebe zu: Das Vorgehen gegen diese Extremisten könnte für meinen Geschmack noch um einiges härter sein. Doch die Regierung Orbán handelt, während die Linksregierungen zuvor diese Manifestationen toleriert haben. Ausländische Proteste vernahm man damals nicht.
Ungleiche Ellen. Orbán, so eine weitere Anklage, führe einen nationalistischen, auf Grossungarn gerichteten Kurs. Niemand freilich hat je sagen können, wann diese Regierung die Änderung von Grenzen verlangt hätte. Ja, erwidert man, aber Orbán bietet Mitgliedern der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern den ungarischen Pass an. In der Tat, diese Magyaren können auf Wunsch auch die ungarische Staatsbürgerschaft annehmen, Doppelbürger werden. Ist das grauenhaft? Wenn ja, ist es auch grauenhaft, dass die Bundesrepublik Deutschland etwa 300 000 Deutschstämmigen in Polen die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen hat? Und wenn man in Österreich es selbstverständlich findet, dass 300 000 deutschsprachige Südtiroler eine territoriale Autonomie besitzen, warum ruft man dann „Nationalismus!“, wenn in Budapest auch nur ein Wort darüber fällt, dass 650 000 Ungarn im Széklerland in Rumänien auch ihre Autonomie haben könnten?
Und wenn wir schon bei den Minderheiten sind. Als ebenfalls skandalös angeprangert wurde, dass in der neuen Verfassung die nicht-ungarischen Volksgruppen nicht als Teile der Nation definiert werden. Nun, sie waren einmal so definiert – im 19. Jahrhundert, als anderssprachige Teile der „hungarica natio“. Das aber hat damals die berechtigte Empörung der nicht-ungarischen Bewohner hervorgerufen. Gelegentlich ist es nützlich, wenn man auch die Geschichte des Raumes kennt, über den man spricht.
Die Roma in Ungarn lebten in Elend und Angst, das haben wir unlängst im Europäischen Parlament gehört. Wer wollte leugnen, dass in Ungarn – wie in manchem ostmitteleuropäischen Land – ein vielschichtiges, sozial- und bildungspolitisches Romaproblem besteht. Es gibt viel Elend, das nicht mit der Regierung Orbán begonnen hat und, da nur langfristig erarbeitete Lösungen möglich sind, auch nicht mit ihr enden wird. Es war aber Ungarn, das, als es den EU-Vorsitz innehatte, als erstes Land eine europäische Romastrategie zu fördern suchte. Die westeuropäische Bereitschaft, sich daran zu beteiligen, blieb bisher bescheiden. Und die Vorgehendweise von Ländern wie Italien und Frankreich, als sie unlängst mit dem Problem auch nur oberflächlich konfrontiert wurden, waren mit Blick auf die Menschenrechte kein Ruhmesblatt.
Die Beispiele liessen sich lange fortsetzen – beinahe beliebig, weil heute kaum mehr eine Massnahme der ungarischen Behörden vorstellbar ist, die, am EU-Sitz in Brüssel ebenso wie in anderen europäischen Hauptstädten, nicht sogleich höhnisch ablehnende Kommentare und Feindseligkeit hervorrufen würde. Die Jagdsaison ist offen, die Regierung Orbán zum Abschuss freigegeben. Und doch sollte es zur Vorsicht mahnen, dass hinter dieser Regierung, wie dies am 21. Januar eine Demonstration in Budapest unter der Teilnahme von Hunderttausenden gezeigt hat, nach wie vor Massen stehen. Dies gilt auch dann, wenn nicht wenige westliche Informationsorgane es schlicht vorzogen, diese Kundgebung ganz unerwähnt zu lassen.
Und so meine ich, dass bei aller Kritikwürdigkeit der Regierung Orbán ausländische Politiker wie Presseleute gut beraten wären, weniger Heftigkeit zu bezeigen und sich um mehr Kenntnis des Landes zu bemühen. Auch sollte man nicht von aussen den Schulmeister spielen, sondern es den Ungarn selber überlassen, mit ihren Problemen fertig zu werden. Die Regierung Orbán hat bald die Hälfte ihrer Amtszeit hinter sich. Die nächsten Parlamentswahlen finden im Frühling 2014 statt. Nichts ist festgeschrieben. Die Geschichte der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass es in Ungarn in der Volksmeinung in kurzer Zeit zu gewaltigen Umschwüngen kommen kann.
Die masslose Hetze gegen Ungarn (ein milderes Wort bietet sich leider nicht an) könnte, so steht zu befürchten, fatale Folgen zeitigen. Die Ungarn gelten als nationalbewusst. Weniger bekannt ist, dass grosse Teile der ungarischen Gesellschaft Westeuropa zwar bewundern, ihm gegenüber aber auch bittere Gefühle hegen. Das hat historische Gründe. Um nur im 20. Jahrhundert zu bleiben: Infolge des Friedens, den die Westmächte dem Land 1920 auferlegt haben, leben heute rund 10 Millionen Ungarn im Mutterland und immer noch etwa 2,5 Millionen als Minderheiten in Nachbarländern. Keine Nation auf dem europäischen Kontinent ist zurzeit in solchen Proportionen aufgeteilt. Viele Ungarn erinnern sich an den Volksaufstand von 1956, für den die Westmächte trotz aller Roll back-Rhetorik keinen Finger rührten, und auch daran - und diese Sicht ist vielleicht spezifisch ungarisch -, dass die Wende von 1989 ohne westliches Hinzutun und zu einem Teil sogar gegen den westlichen Willen geschah.
Ungarn mag sich heute, wie andere Länder der Region mit ähnlichem Schicksal, in einer schweren, offenbar langen, schmerzhaften und auch von Verwerfungen nicht freien Übergangsperiode befinden. Aggressive Kampagnen von aussen sind dabei wenig hilfreich. Im Gegenteil. Tritt keine Versachlichung ein, dann ist ein kontraproduktives Resultat gewiss. Man kann Ungarns Regierung in fairem Gespräch zu Korrekturen bewegen. Oder man kann sie demütigen und sogar aus dem Amt drängen. Denn auch dies wird schon propagiert, und es unterliegt keinem Zweifel, wer am längeren Finanzhebel sitzt. Doch niemand soll sich Illusionen machen. Gestärkt wird im Land hierdurch nicht die Demokratie. Gestärkt werden die extremistischen, die antieuropäischen Kräfte.
Andreas Oplatka
Geboren 1942 in Budapest. Emigration nach dem Volksaufstand von 1956. Germanistik- und Geschichtsstudium in Zürich und in Wien. 1968 bis 2004 bei der Neuen Zürcher Zeitung, Auslandredakteur, Korrespondent in Skandinavien, in Frankreich, in der Sowjetunion und in Ostmitteleuropa. 2004 Habilitation am Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Dozent in Wien und 2005 bis 2011 Professor an der deutschsprachigen Andrássy Universität Budapest. Wohnort in Zürich-Zollikon, Schweiz.